Reisners Blick auf die Front "Pokrowsk ist schon direkt unter Feuer"
21.01.2025, 20:23 Uhr Artikel anhören
Ein ukrainischer Frontsoldat kontaktiert seine Kameraden
(Foto: IMAGO/Le Pictorium)
Pokrowsk, wichtiger Knotenpunkt im Donbass, steht unter Feuer, die Angreifer kontrollieren fast alle Versorgungslinien. Warum die Ukrainer dennoch gute Gründe sehen, die Stadt bis zum letzten Moment zu verteidigen, erklärt Oberst Markus Reisner ntv.de.
ntv.de: Herr Reisner, im Donbass haben die russischen Truppen eine ukrainische Eisenbahnlinie südwestlich von Pokrowsk erreicht. Mit welchen Folgen für die Versorgung?
Markus Reisner: Über diese Bahnlinie wurde in Friedenszeiten Kohle aus Pokrowsk und den Minen der Umgebung nach Westen gebracht. Diese Versorgung ist nun natürlich unterbrochen. Erkennbar ist, dass die Russen sich mit massiven Angriffen auf die Stadt selbst zurückhalten. Meiner Einschätzung nach wollen sie versuchen, die Stadt möglichst intakt in Besitz zu nehmen. Dann könnten sie Pokrowsk anschließend als eigenen Logistikknotenpunkt nutzen. Sie dürfen nicht vergessen, all die Städte östlich von Pokrowsk sind nahezu dem Erdboden gleichgemacht.
Das heißt, Russland kann mit den anderen Orten nichts Praktisches anfangen?
Für eine logistische Nutzung eignen sie sich nicht. Schlussendlich brauchen die Russen aber ein Logistiknetz, denn sonst werden die Nachschubrouten an die Front in der Distanz zunehmend überdehnt. Sie haben also logistisch zu lange und leicht angreifbare Versorgungslinien.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.
(Foto: privat)
Dann brauchen die Russen diese Bahnlinie selbst? Und haben sie eingenommen, lassen sie aber unversehrt?
Südwestlich von Pokrowsk gibt es eine kleine Ortschaft namens Kotlyne, dort sind sie über die Eisenbahnlinie bereits Richtung Norden vorgestoßen. Videos, die wir vorliegen haben, zeigen, wie die Ukrainer versuchen, mit First-Person-View-Drohnen die russischen Soldaten dort zu treffen. Auf den Videos ist aber auch sehr gut erkennbar, dass die Eisenbahnlinie selbst im Wesentlichen intakt ist und nur kleinere, behebbare Schäden aufweist. Man kann davon ausgehen, dass die Russen die Bahntrasse auf lange Sicht nutzen wollen. Vorausgesetzt, dass es möglich ist. Eben weil sich diese Route anbieten würde als Logistikader für etwaige Vormärsche weiter in Richtung Nordwesten oder Westen.
Von wo könnten die russischen Truppen ihren Nachschub dorthin schaffen?
In den besetzten Gebieten gibt es Städte, die der russischen Armee als Logistikknotenpunkte dienen. Beispielsweise Luhansk und Donezk, das sich in direkter Verlängerung der Achse von Pokrowsk aus Richtung Südosten befindet. Donezk ist ein wichtiger Versorgungspunkt, von dem aus Güter nach Pokrowsk gebracht werden könnten. Von dort würden sie dann weiterverteilt, zunächst vielleicht auf LKW, dann auch mit der Eisenbahn.
Für die ukrainische Seite ist die Unterbrechung der Bahnlinie nicht so relevant, oder? Die Ukrainer hatten ihr Versorgungsnetz ja schon verlegt wegen der Kämpfe.
Eisenbahntransporte in Richtung Stadt haben tatsächlich kaum noch stattgefunden, weil die Stadt ja schon unter direktem Feuer ist. Mit Artillerie, mit Gleitbomben und Drohnen. Immer wieder sehen wir Videos, auf denen First-Person-View-Drohnen zu sehen sind, die in der Stadt patrouillieren. Wenn sie Ziele erkennen, greifen sie diese an. Auch das zeigt: Pokrowsk ist inzwischen sehr schwer zu halten, weil die Russen durch Feuer das Zentrum selbst und alle zu- und abführenden Versorgungslinien kontrollieren.
Werden denn die ukrainischen Soldaten, die Pokrowsk derzeit noch verteidigen, überhaupt noch ausreichend versorgt?
Westlich von Pokrowsk teilt sich die Eisenbahnlinie in eine Route, die jetzt durch den russischen Vorstoß unterbrochen wurde, und in eine zweite, die noch frei ist und parallel zu einer wichtigen Straße verläuft. Über diese beiden Linien, die Straße und die Schiene im Nordwesten, kommen noch Güter in die Stadt hinein. Allerdings fliegen russische First-Person-View-Drohnen fast zehn Kilometer weit. Von Kotlyne aus, dem kleinen Dorf, das die Russen nun an der unterbrochenen Eisenbahntrasse in Besitz genommen haben, können die Drohnen bis zu der nördlichen Bahnlinie fliegen. Die liegt nur sechs Kilometer entfernt. Das heißt, die Russen können dort durchgehend aufklären, Pokrowsk und seine Umgebung und die Zufahrtsmöglichkeiten betreffend. Das macht es für die Ukrainer immer schwieriger, Kräfte dort heranzuführen.
Rechnen Sie damit, dass Kiew die Stadt Pokrowsk jetzt aufgibt?
Im Süden, Südwesten und Südosten ist Pokrowsk bereits umfasst. Der Nordbereich ist aber immer noch unter ukrainischer Kontrolle Das gibt ihnen die Möglichkeit, die Stadt vorerst weiter zu halten. Erst wenn sich die Situation wesentlich verschlechtert, wird sie aufgegeben werden. Wie etwa Velika Nowosylka, südlich von Pokrowsk. Der Ort ist wesentlich kleiner und bereits von drei Seiten eingeschlossen. Wir erkennen eindeutig, dass die Ukrainer versuchen, Gerät aus der Stadt herauszubringen. Das ist nicht einfach, selbst wenn das im Einzelmarsch passiert, wird das Gerät oft von den Russen erkannt, bekämpft und auch zerstört. Am Ende versuchen Soldaten oft, in kleinen Gruppen auszubrechen.
Und das gelingt dann noch?
Das gelingt immer wieder, ist aber ein hohes Risiko, und verringert von Tag zu Tag die Möglichkeiten die Stadt länger zu halten. Ich denke, wir können erwarten, dass die Ukrainer Velyka Nowosylka verlassen werden, weil die Stadt vor dem Fall steht. Ostwärts von Pokrowsk herrscht dieselbe Situation in Torestk, auch dort werden sich die Ukrainer vermutlich zurückziehen. Bei Kurachowe ist der russische Kessel nahezu geschlossen, dort wird es zu einem Zusammenschluss der Kräfte kommen. Damit verkürzt sich die Front und die Russen können neue Kräfte verfügbar machen.
Letzte Frage zu Pokrowsk: Warum ist die Stadt überhaupt noch so wertvoll für die Ukrainer? Lohnt sich der Aufwand, der Verschleiß an Kräften, um sie zu halten?
Ja, weil es aufgrund der Überdehnung der Versorgungslinien, also von Donezk bis zur Front, für die Russen immer schwieriger wird, Material nach vorn zu bringen. Vor kurzem kursierte ein eindrucksvolles Video: Zwei russische Motorradfahrer fuhren auf einer Straße in Richtung der Stadt, und die Fahrbahn war übersät mit zerstörtem russischem und ukrainischem Kriegsgerät. Links und rechts waren Krater zu sehen. Die Ukrainer können mit Artillerie und Drohnen auf diese Straße wirken. Das zeigt, wie schwierig es ist, die Distanzen bis zur Front zu überwinden.
Darum wäre es aus russischer Sicht so nützlich, Pokrowsk als neuen Logistikknotenpunkt zu etablieren. Zudem war die Stadt ja Knotenpunkt für die Braunkohleförderung, und auch als solcher wäre er für die Russen von Nutzen. Darum möchten sie die Stadt möglichst unversehrt in ihre Hände bekommen, und darum wird sie von den Ukrainern noch immer verteidigt.
Die Front im Donezk ist an einer Stelle schon so weit nach Osten verlegt, dass die Russen in Kürze einen fünften Oblast, Dnipropetrowsk, erreichen könnten. Erwarten Sie diese Entwicklung schon bald? Und was würde das bedeuten?
Ich sehe eindeutig den Versuch der Russen, den nächsten Oblast zu erreichen. Das ist attraktiv, weil sie in dem Moment, wo die Truppen einen Fuß über die Oblastgrenze setzen, natürlich die Aufmerksamkeit der Medien haben werden. Unabhängig davon, ob das faktisch nur einen kleinen Geländeabschnitt betreffen würde oder ein größeres Gebiet, könnte Russland damit in seinem Sinne Stimmung im Informationsraum machen. Wenn Sie dort genau hinschauen, dann sehen Sie die russischen Kräfte nur noch fünf bis sechs Kilometer vom äußersten Rand des Oblastes entfernt.
Droht ein solches Fortschreiten an mehreren Stellen?
Wesentliche Teile des Oblasts Donezk befinden sich noch nicht in russischem Besitz. Auch in Cherson und Saporischschja ist das der Fall. Nur in einem einzigen der vier von Russland "annektierten" Oblaste ist die Situation wirklich knapp. Das ist der Oblast Luhansk. Nordwestlich von Seweodonezk fehlen hier nur noch wenige Quadratkilometer, bis man den gesamten Oblast unter russischer Kontrolle hat.
In der Nähe von Lyman haben die Russen nun einen Brückenkopf westlich des Flusses Scherebez errichten können. Wie schwierig war es, diesen Fluss zu überqueren?
Die Russen haben massive Flussüberquerungen schon mehrfach in der Vergangenheit versucht und sind immer gescheitert, auch mit großen Verlusten. Die Ukrainer haben sich an mehreren Flüssen festgesetzt, um diese zu halten. Dennoch ist es den Russen gelungen, bei Kupjansk den Fluss Oskil sowie bei Chassiv Yar den Siwersky Donez Kanal zu überqueren und bei Terney, nordostwärts von Lyman, einen Brückenkopf jenseits des Scherebez zu errichten.
Wie wichtig ist dieser erfolgreiche Vorstoß?
Für jede Operationsführung ist es wichtig, mögliche behindernde Geländeabschnitte rasch in eigenen Besitz zu bekommen, als Ausgangspunkt für eigene Angriffe. Das sehen wir auch hier. Die Russen versuchen, westlich dieser eben genannten Flusshindernisse Brückenköpfe zu schaffen und von dort aus weiter Richtung Westen vorzurücken. Konkret am Scherebez wird es sicher das Ziel sein, die Stad Isjum zu erreichen. Die ist seit Jahrhunderten ein geografisches Nadelöhr der Region und ein wichtiger Knotenpunkt. Um den wurde bereits Anfangs des Krieges sehr heftig gekämpft.
Wir haben heute auf drei Details geschaut. Zu welcher Gesamtlage fügen sie sich zusammen?
Der Vormarsch der Russen geht langsam vor sich, aber stetig. Kurz zum Raum Kursk, wo die Ukraine vorgestoßen war: Dort wird ihre Lage immer schwieriger. Nur noch 420 Quadratkilometer sind in ukrainischer Hand, das ist etwa die halbe Fläche Berlins. Im Donbass greifen die drei Gruppierungen der Russen weiter massiv an, der Ukraine fehlt es, das sagte auch General Syrskyj im Interview vor Kurzem, weiterhin an Fliegerabwehr. Letzte Woche allein hat die russische Armee mehr als 660 Gleitbomben eingesetzt. Die größte Herausforderung ist aber nach wie vor die Verfügbarkeit weiterer Soldaten. Die Ukraine ist in der Defensive und kann so den Krieg nicht gewinnen.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de