Anne Wills "Reichsbürger"-Talk "Größenwahnsinnig, irre, gefährlich"
13.12.2022, 10:36 Uhr (aktualisiert)
"Die Gefahr war sehr ernst zu nehmen", sagte Innenministerin Faeser zur Aktion gegen "Reichsbürger".
(Foto: picture alliance/dpa)
3000 Ermittler durchsuchten 130 Wohnungen und Geschäftsräume von mutmaßlichen "Reichsbürgern". Der Verdacht: Diese sollen eine terroristische Vereinigung gebildet haben. Bei "Anne Will" diskutieren Gäste über den Umgang mit Rechtsextremisten.
Am vergangenen Mittwochmorgen um kurz nach halb acht kamen die ersten Meldungen. Da waren die Durchsuchungen bei sogenannten Reichsbürgern schon in vollem Gange. In einer konzertierten Aktion hatten Tausende Ermittler mehr als 100 Objekte in elf Bundesländern, Österreich und Italien durchsucht. 25 Menschen wurden festgenommen. Gegen sie ermittelt die Bundesstaatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Deren Mitglieder sollen konkrete Pläne geschmiedet haben, die Regierung zu stürzen. Dass dabei Menschen getötet werden könnten, sollen sie billigend in Kauf genommen haben. In der ARD-Talkshow "Anne Will" haben am Sonntagabend die Gäste darüber diskutiert, wie groß die Gefahr durch rechtsextremistische Terroristen ist und was man dagegen tun kann.
"Die Gefahr war sehr ernst zu nehmen, sonst hätte der Generalbundesanwalt nicht 25 Haftbefehle vollstreckt, in 130 Immobilien Durchsuchungsmaßnahmen angeordnet und sehr erfolgreich durchgegriffen, mit über 3000 Polizeikräften, denen ich sehr dankbar bin, dass sie so hart durchgreifen konnten", erklärt Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Die Erleichterung ist ihr noch immer anzumerken. Die Vorermittlungen waren unter äußerster Geheimhaltung abgelaufen. Er habe erst einen Tag zuvor von den geplanten Durchsuchungen erfahren, berichtet der nordrhein-westfälische CDU-Innenminister Herbert Reul. Laut Faeser war die Gefahr eines Umsturzes "sehr real, aber wir hatten es gut im Griff".
Der Journalist Florian Flade ist Teil des Recherchenetzwerks von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Seit 2016 befasst er sich mit der "Reichsbürger"-Szene in Deutschland. Er berichtet, die ins Visier der Ermittlungsbehörden geratene Terrorgruppe setze sich aus Menschen unterschiedlicher Milieus zusammen. Sie hätten konkrete Pläne gehabt, über die sie sich in Internet-Chats und persönlichen Gesprächen verständigt hätten. Dazu habe auch der Überfall auf den Bundestag gehört. Dennoch ermittle der Generalbundesanwalt nicht wegen der Planung eines Staatsstreichs, sondern wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung.
"Das kommt da alles zusammen"
Flade weiß, dass Ermittlungen in alle Richtungen gehen können. Dazu gehört auch, dass diese Verdächtige auch entlasten könnten. Klar sei auf jeden Fall, dass die Mitglieder der Gruppierung eines verbinde: Demokratiefeindlichkeit. "Da sind Antisemiten darunter, da ist sehr viel aus verschwörungsideologischen Milieus dabei, aber auch Anhänger von QAnon, die an pädo-kriminelle Eliten glauben, die Länder regieren. Das kommt da alles zusammen." Reul kategorisiert die Ideologie der Gruppe als "Salatbar-Extremismus", und Flade erklärt: "Man nimmt sich aus verschiedenen Extremismen die heraus, die einem passen, um sich die Welt zu erklären."
Der frühere FDP-Innenminister Gerhart Baum glaubt indes nicht, dass eine solche Gruppe das Staatsgefüge durch einen Anschlag ins Wanken bringen könne. "Aber ich glaube, dass sie unsere Demokratie zerstören, und da sind sie nicht allein." Rechtsextremismus sei die größte Gefahr für Deutschland, betont Baum. "Diese Leute fangen an, das Volk zu erreichen, und das macht mir Sorgen." Linken-Co-Chefin Janine Wissler stimmt zu: "Es ist dringend notwendig, dass man die 'Reichsbürger' nicht einfach als harmlose Spinner abtut. Auch wenn ihre Ideen total größenwahnsinnig und irre klingen, heißt das nicht, dass sie nicht gefährlich sind."
"Problem des Wegschauens"
Reichsbürger" und "Selbstverwalter" verneinen die Existenz der Bundesrepublik Deutschlands und ihres Rechtssystems, sprechen Politikern und anderen Staatsbediensteten die Legitimation ab. Nach Ansicht der meisten "Reichsbürger" besteht das Deutsche Reich fort und das Grundgesetz ist lediglich "Besatzungsrecht". "Selbstverwalter" betrachten sich selbst als außerhalb der Rechtsordnung stehend. Sie vertreten häufig übergeordnete philosophische oder religiöse Ansätze, mit denen sie das vermeintliche Recht zur Ausrufung eigener Fantasiestaaten oder Rechtssysteme begründen.
Beide Strömungen lehnen den deutschen Staat und seine Repräsentanten grundsätzlich ab. Hieraus ergibt sich auch die erhöhte Bereitschaft, Ordnungswidrigkeiten und Straftaten zu begehen. Betroffen sind insbesondere Polizei, Justiz und Finanzämter; grundsätzlich können jedoch alle öffentlichen Stellen in den Fokus geraten. Gefährlich ist hierbei auch die hohe Waffenaffinität des Milieus. (Quelle: Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg)
Wie soll es nun weitergehen? Was kann man gegen Rechtsextremisten tun? Für Innenministerin Faeser ist wichtig, dass solche Menschen schnell aus dem Staatsdienst entfernt werden. "Für mich kommt die größte Bedrohung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung von rechts", sagt sie. Ihr ist aber auch klar, dass es sich dabei um eine Minderheit handelt. Auch wenn in der mutmaßlichen Terrorgruppe ehemalige Soldaten und Polizisten organisiert waren, sagt sie: "Die überwiegende Mehrheit von Soldaten und Polizisten bewegt sich auf dem Boden des Grundgesetzes und will den Staat schützen." Doch für die Minderheit von Extremisten will sie das Disziplinarrecht ändern. Dabei gehe es ihr nicht um die Umkehr der Beweislast, wie sie noch vor wenigen Tagen bei "Maischberger" erklärt hatte. Vielmehr will sie Extremisten per "Verwaltungsakt" aus dem öffentlichen Dienst entfernen, statt wie bisher über eine Verwaltungsgerichtsklage. "Wir müssen schneller werden. Es ist wichtig, dass der Staat da handlungsfähig ist."
Von einem "strukturellen Problem" besonders bei der Polizei spricht indes Linke-Chefin Janine Wissler. So habe die Polizei in Hessen rechte Chatgruppen in ihren eigenen Reihen aufgespürt. Dort habe man ein gesamtes SEK auflösen müssen. Wissler fragt sich, warum Vorgesetzte nichts mitbekommen haben. "Es gibt ein Problem des Wegschauens", kritisiert sie. Es brauche unabhängige Stellen, an die sich Beamte wenden können, um Missstände zu melden.
Für den NRW-Innenminister ist diese Kritik "grober Unsinn". Es sei das eine, "durch Schwätzen Stimmung zu machen, das andere, sich drum zu kümmern". Das habe er versucht und eine Kommissarin suspendieren wollen, die sich in einer Chatgruppe rechtsradikal geäußert habe. Das zuständige Gericht habe dies abgelehnt, weil Chatgruppen private Räume seien. Das müsse man ändern, fordert Reul. Zudem brauche man Instrumente, um gerade bei der Polizei Rechtsextremisten schnell zu entfernen. Und schließlich müsse die Politik damit anfangen, die Sorgen der Menschen wirklich ernst zu nehmen.
Klingt gut, doch für Journalist Flade ist klar: "Wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir in den nächsten Jahren immer häufiger Menschen haben werden, die mit Gewalt etwas verändern wollen, und die wilde Ideen haben. Und wir haben öfter damit zu tun, weil wir auf viele Fragen keine Antwort haben."
(Dieser Artikel wurde am Montag, 12. Dezember 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de