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Sinnlose Schlacht um Bachmut? "Russische Seite könnte ein Massaker vollziehen"

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Die ukrainischen Soldaten in Bachmut laufen Gefahr von russischen Streitkräften eingekesselt zu werden.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

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In kaum einer anderen Stadt in der Ukraine vergießen russische und ukrainische Soldaten so viel Blut wie in Bachmut. Experten zweifeln deshalb an der Strategie Selenskyjs. Warum Kiew trotzdem an Bachmut festhält, obwohl sie nicht kriegsentscheidend ist, erklärt Sicherheitsexperte Gerhard Mangott im Interview. Im Moment sei es aber einfach nur eine Stadt, in der sehr viele Menschen sterben.

ntv.de: Die Situation in Bachmut scheint festgefahren. Seit Wochen ist die Stadt hart umkämpft, die russische Seite erleidet hohe Verluste, trotzdem gibt es kaum Geländegewinne. Was bedeutet die Stadt für die russischen und ukrainische Seite jeweils?

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Gerhard Mangott ist Professor für Internationale Beziehungen und Sicherheitsexperte an der Universität Innsbruck.

Gerhard Mangott: Für die russische Seite wäre die Eroberung von Bachmut ein symbolischer Sieg. Der erste seit vielen Monaten. Umgekehrt wäre das auch ein Grund, warum die Ukraine die Stadt nicht aufgeben möchte. Sie möchte der russischen Seite diesen symbolischen Erfolg nicht gönnen.

Der zweite Grund ist, dass Präsident Selenskyj Bachmut zu einer Festung ausgerufen hat. Dort sollen möglichst viele russische Soldaten sterben und möglichst viel russisches Gerät zerstört werden. Das ist die militärische Logik hinter diesem Festhalten an dieser Stadt. Das setzt jedoch voraus, dass Material und Personenverluste auf der russischen Seite erheblich höher sind als auf der ukrainischen. Sonst würde diese militärische Logik nicht greifen.

Selenskyj warnt immer wieder davor, dass die Russen "freie Bahn" hätten, wenn man Bachmut aufgäbe. Das ISW bezweifelt das. Was ist Ihre Einschätzung?

Ich bezweifle das ebenfalls, denn es gibt ja die westlich von Bachmut gelegene Verteidigungslinie, auf die sich die ukrainische Armee zurückziehen könnte. Daher überzeugt mich auch das Argument nicht, dass Russland bei einer Eroberung Bachmuts auf die Verteidigungszentren in Slowjansk und Kramatorsk vorstoßen könnte.

Wie hoch ist das Risiko, dass ukrainische Streitkräfte eingekesselt werden?

Bislang haben die russischen Kräfte die Stadt vom Norden, vom Osten und vom Süden umschlossen. Es gibt im Westen der Stadt noch eine Verbindungsstraße, über die jetzt Material und Soldaten nach Bachmut gebracht werden und über die eine eventuelle Evakuierung stattfinden könnte. Wenn aber diese westliche Straßenverbindung entweder von Russland blockiert oder durch russischen Artilleriebeschuss so gefährlich wird, dass man sie nicht ohne großes Risiko nutzen kann, dann ist ein Einschluss der ukrainischen Kräfte durchaus möglich. Dann hängt es davon ab, ob die russische Seite ein Massaker vollzieht oder die Soldaten als Kriegsgefangene nimmt.

Vergleicht man nun Nutzen und Risiko miteinander, ist es klug, Bachmut um jeden Preis zu verteidigen?

Da gibt es offenbar Differenzen zwischen dem ukrainischen Oberkommando und der politischen Führung. Es gibt Gerüchte, wonach der Oberkommandierende den Rückzug aus Bachmut schon seit Wochen empfiehlt, weil er keinen militärischen Sinn mehr darin sieht. Selenskyj aber weigert sich, weil er der russischen Seite diesen symbolischen Erfolg der Eroberung nicht gönnen will. Vor etwa zehn Tagen hat Selenskyj daher öffentlichkeitswirksam den Oberkommandierenden sagen lassen, er unterstütze vollkommen die weitere Verteidigung von Bachmut und die Entsendung von zusätzlichen Kräften dorthin. In der Realität gibt es hier aber eine Differenz und die Politik siegt im Augenblick.

Nach Informationen des ukrainischen Militäranalysten Schdanow wurden auch Reservisten nach Bachmut geschickt, die in westlichen Ländern ausgebildet wurden und für die Gegenoffensive eingesetzt werden sollen. Schadet sich die Ukraine damit nicht selbst?

Das kann man auch an der Aussage von Lloyd Austin sehen, dem Verteidigungsminister der USA. Er sagte, wenn Bachmut fällt, sei das überhaupt nicht kriegsentscheidend. Das war gewissermaßen eine öffentliche Empfehlung an die ukrainische politische Führung, die Stadt aufzugeben.

Es heißt, dass auf einen toten ukrainischen Soldaten mindestens fünf russische kommen. Was ist an der Aussage dran?

Das sind ukrainischen Angaben, die nicht unabhängig überprüft werden können. Es gibt auch Aussagen, nach denen das Verhältnis eins zu sieben ist. Es gibt aber Berichte von russischen Militärbloggern, dass die Wagner-Truppe in Bachmut bis zu 10.000 Söldner verloren haben könnte. Das sind aber nicht die Wagner-Elitesoldaten, sondern vor allem kurzfristig aus Gefängnissen einberufene Rekruten, die mit wenig Kampferfahrung in immer neuen Wellen von Menschenmassen auf die Verteidigungslinie vorrücken, um dann jedes Mal einige 100 Meter zu gewinnen.

Was ist von der geplanten ukrainischen Gegenoffensive zu erwarten?

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Die wohl überzeugendste Version ist, dass die Ukraine in der Region Saporischschja angreift und versucht zunächst bis Melitopol vorzustoßen. Bei optimalem Verlauf dringen sie bis an die Küste des Asowschen Meer vor, um dann die von Russland besetzten Gebiete in zwei Teile zu spalten, den Donbass und die Krim, und was noch übrig bleibt von der Region Cherson, das Russland besetzt hält. Das würde dann auch die Landbrücke zunichtemachen, die Russland im vergangenen Frühjahr vom Donbass zur Krim erobert hat. Das ist das wahrscheinlichste Szenario. Die Ukraine wird aber noch abwarten, bis sie eine substanzielle Zahl von leistungsfähigen westlichen Kampfpanzern hat, mindestens sechs Wochen.

In dem Szenario hätte Bachmut weder eine große Auswirkung auf die Gegenoffensive, noch auf die Offensive Russlands.

Was auch immer passiert, es ist schlichtweg nicht kriegsentscheidend. Im Moment ist es einfach nur eine Stadt, in der sehr viele Menschen sterben. Bachmut ist ein Ort des Elends für die Soldaten auf beiden Seiten, ohne großen militärischen Sinn. Das ist das Bittere an dieser Lage.

Mit Gerhard Mangott sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de

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