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Reisners Blick auf die Front "Ukraine zielt erfolgreich auf Russlands Achillesferse"

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Bis zu 3000 Kilometer weit kann die Ukraine mit dem selbstentwickelten Flamingo nach Russland  hineinschießen - und so die Erdölproduktion empfindlich stören.

Bis zu 3000 Kilometer weit kann die Ukraine mit dem selbstentwickelten Flamingo nach Russland hineinschießen - und so die Erdölproduktion empfindlich stören.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Russlands Sommeroffensive geht zu Ende und ist - nach Ansicht von Oberst Reisner - "gescheitert". Im Interview mit ntv.de erklärt Reisner, was Russland als Nächstes plant und warum die vielen Drohnen, die derzeit über Nato-Ländern auftauchen, ein Hinweis auf Russlands Schwäche sind.

ntv.de: Die Ukraine und insbesondere Kiew haben am Wochenende wieder umfangreiche Luftangriffe erlebt. Lässt sich die Größe des russischen Angriffs einordnen in das Geschehen der vergangenen Monate?

Markus Reisner: Der letzte schwere Luftangriff der Russischen Föderation zielte hauptsächlich auf die Hauptstadt Kiew. Dort und in der Umgebung wurden Objekte der kritischen Infrastruktur getroffen, aber auch sehr viele rein zivile Objekte wie Wohnhäuser. Derartige Luftangriffe mit Hunderten Drohnen sowie mit Marschflugkörpern und Raketen erleben wir momentan alle 10 bis 14 Tage. Es sieht danach aus, dass Russland seine strategische Luftkampagne gegen die Energie- und Wärmeversorgung der Ukraine wieder aufnimmt, um die Zivilbevölkerung während des kalten Winters zum Einknicken zu bewegen.

Ist die Ukraine denn dieses Mal besser vorbereitet und ausgerüstet als in den vorangegangenen Wintern?

Im vergangenen Winter wurden nach ukrainischen Angaben bis zu 80 Prozent der kritischen Infrastruktur zerstört oder beschädigt. Die Ukraine hat sich in den letzten Monaten auf eine erneute Kampagne vorzubereiten versucht. Präsident Selenskyj hat auch bei den Verbündeten Druck gemacht, dass sein Land mehr Flugabwehrsysteme und ausreichend Munition braucht. Ob das Gelieferte reicht, wird sich zeigen müssen. Die Ukraine hat aber auch ihre eigenen Fähigkeiten stetig weiterentwickelt, ich denke da an den bereits erfolgreichen Einsatz von Abfangdrohnen. Zugleich hat die ukrainische Kriegsindustrie ihre eigenen Produktionsstätten zunehmend ins Nato-Ausland ausgelagert, wo sie Russland nicht angreifen kann.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er unter anderem zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er unter anderem zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

(Foto: privat)

Muss der jüngste russische Luftangriff in seinem Umfang so gelesen werden, dass die russische Rüstungsindustrie weiter ausreichend nachliefern kann?

So ist es. Nach ukrainischen Geheimdienstinformationen plant Russland, in diesem Jahr 30.000 bis 40.000 Geran-2- sowie 5.700 Harpiya-1-Drohnen und etwa 34.000 Gerbera und ähnliche Täuschdrohnen zu produzieren. Insgesamt fast 80.000 Angriffs- und Täuschdrohnen. Hinzukommen bis zu 2.500 Marschflugkörper, ballistische Raketen und Hyperschallraketen. Die Geran-2-Drohnen werden mittlerweile auch eingesetzt, wie Videos vom letzten Angriff zeigen, um gezielt Umspannwerke anzugreifen und zu zerstören.

Wirkt sich der Jahreszeitenwechsel schon erkennbar auf das Kampfgeschehen am Boden aus?

In den letzten zehn Tagen hat die russische Sommeroffensive ihren Kulminationspunkt erreicht. Der operative Durchbruch ist den russischen Streitkräften dabei nicht gelungen, trotz signifikanter Geländegewinne. Auch diese Sommeroffensive Russlands ist gescheitert. An mehreren Orten entlang der Front haben die Russen die Situation jedoch weiter zu ihren Gunsten verbessern können.

Wo?

Stark unter Druck stehen neben Kupjansk und Siwersk vor allem Pokrowsk, Nowopawliwka, und Kostjantyniwka. Eine weitere, sechste Kesselschlacht bahnt sich um Lyman an. Keiner dieser Orte wurde jedoch bisher von den Russen gänzlich umfasst. Hinzu kommen russische Angriffe auf Saporischschja aus dem Süden von Pokrowsk.

Die Offensivbemühungen kommen nun zum Stehen?

Zumindest im Herbst, während der viel besprochenen Schlammperiode Rasputiza. Zudem erschweren die von den Bäumen fallenden Blätter noch einmal Bewegungen. Drohnen finden noch schneller und leichter ihr Ziel. Sobald aber der Boden gefroren ist, kann und wird es auch wieder eine Winteroffensive geben.

Ist es den Ukrainern gelungen, rechtzeitig hinter sich neue Verteidigungslinien zu bauen, nachdem die alten weitgehend überrannt sind?

Die Ukraine hat mittlerweile die sogenannte Neue Donbass-Linie errichtet. Diese Neue Donbass-Linie dürfen wir uns in der Intensität nicht so vorstellen wie die Linien, die in den letzten Jahren vor dem Krieg errichtet worden waren. Die neue letzte Linie besteht vor allem aus Stacheldraht. Der erfüllt aber durchaus seinen Zweck, weil wegen der ständigen Drohnenüberwachung die Angreifer meist in kleinen Stoßtrupps vorrücken und vom Stacheldraht effizient aufgehalten werden.

Welche Möglichkeiten brächte die von US-Vizepräsident Vance und anderen US-Regierungsmitgliedern angedeutete Bereitschaft mit sich, der Ukraine Tomahawk-Marschflugkörper zur Verfügung zu stellen?

Die Trump-Regierung ist offenbar am selben Punkt angelangt, wo schon die Biden-Regierung am Ende ihrer Amtszeit angekommen war: Auch sie gestattete im Zusammenhang mit der ukrainischen Kursk-Offensive zeitweise den Einsatz weitreichender westlicher Waffen tief in russischem Territorium. Weil sich Putin auch unter Trump nicht bewegt hat, könnte Washington nun wieder Angriffe tief in russischem Territorium gestatten.

Mit welchem Ziel?

Marschflugkörper vom Typ Tomahawk sind sehr präzise und auch technisch weit entwickelte Waffensysteme mit einer Reichweite von bis zu 2500 Kilometern. Durch die Verfügbarkeit von Tomahawks hätte die Ukraine wieder verstärkt die Möglichkeit, kritische Stellen der russischen Streitkräfte anzugreifen - Kommunikationsknotenpunkte, Logistikknotenpunkte, Bereitstellungsräume hinter der Front. Das würde auch russische Vorbereitungen auf eine neue Frühjahrs- und Sommeroffensive stören.

Am Wochenende schlug bereits eine mutmaßliche ATACMS-Rakete aus US-Lieferungen in einer Fabrik im russischen Brjansk ein. Was bedeutet das?

Es könnte sein, dass von US-Seite eine Freigabe von gewissen Angriffen auf russisches Territorium bereits erfolgt ist. Hinzu kommt ja noch der großflächige Stromausfall in der Region Belgorod. Ursächlich soll da der Einschlag eines ATACMS- oder HIMARS-Geschosses gewesen sein. Die Belege, dass es sich jeweils um solche US-Waffen gehandelt hat, stehen noch aus. Wenn diese Belege aber vorliegen und sich derartige Angriffe häufen, haben die USA der Ukraine offensichtlich entsprechende Freigaben erteilt.

Mit eigenen Waffen greift die Ukraine bereits unablässig auf russischem Territorium an. Hat das inzwischen erkennbare Auswirkungen auf die russischen Kapazitäten zur Kriegsführung?

Zum ersten Mal seit langer Zeit können wir messbare Ergebnisse der ukrainischen Luftkampagne gegen Russland beobachten. Nach Schätzungen unterschiedlichster Experten stehen bis zu 25 Prozent der Erdölproduktionskapazität nicht zur Verfügung. Die Ukraine zielt erfolgreich auf Russlands Achillesferse: Die Deviseneinnahmen durch Erdölverkäufe ins Ausland sind das Schmiermittel der russischen Kriegsindustrie. Das Auftreten mutmaßlich russischer Drohnen über Skandinavien, dem Baltikum bis runter nach Rumänien ist ein Zeichen dafür, dass der ukrainische Druck wirkt. Die russische Seite versucht, davon abzulenken durch ihr Einwirken tief in den Nato-Raum. Nebenher binden die Drohnen aber auch Flugabwehr, die die Nato-Staaten dann womöglich nicht der Ukraine zur Verfügung stellen.

Mit Markus Reisner sprach Sebastian Huld

Quelle: ntv.de

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