Schulen allein gegen Corona "Ventilatoren haben die Lehrer selbst gekauft"
15.08.2020, 09:20 Uhr
Volle Klassen, keine Masken - Schulen könnten zunehmend zu neuen Corona-Hotspots werden.
(Foto: picture alliance/dpa)
Das Risiko, dass Schulen zum Corona-Hotspot werden - jedes Bundesland geht dieses Problem anders an. Berlin unterrichtet bei voller Klassenstärke und ohne Abstand. Für die Schulen ist das kaum zu stemmen.
7:45 Uhr auf einem Schulhof mitten in Berlin: Kindergeschrei bei Fußballspiel und Fangen? Keineswegs. Jedes eintreffende Kind stellt sich in einer per Schild und Hütchen markierten Schlange an, in der auch die Klassenkameraden bereits warten - allesamt mit Maske. Ein knappes Dutzend Kinderschlangen nebeneinander auf dem Schulhof, nach und nach traben sie hinter den Lehrerinnen in das Schulhaus.
"Wir trennen die Kinder hier strenger voneinander als andere Schulen", erklärt die Direktorin. "Aus einem einfachen Grund: Wenn zum Beispiel aus der 5b ein Kind positiv getestet wird, muss ich nur die Jahrgangsstufe 5 für zwei Wochen nach Hause schicken. Alle anderen können weiter kommen." Das Risiko Covid-19 ist ganz konkret: Derzeit warten zwei Verdachtsfälle aus der Schülerschaft zuhause auf ihr Testergebnis. Eine erneute Schulschließung - wie im Frühjahr während des Lockdowns - wäre der Albtraum der Schulleiterin. "Die Schüler brauchen den Kontakt hierher, zuhause sind die Bedingungen oft schwierig. Wenn wir nochmal dicht machen müssen, verlieren wir ein paar Kinder, das steht fest."
Jahrgänge strikt getrennt voneinander, der Pausenhof in feste Areale abgesteckt, damit sich niemand mischt, Stoßlüften und Ventilatoren in den Klassenzimmern - so versucht die kleine Schule, das umzusetzen, was der Berliner Senat als "klare Eckpunkte" bezeichnet, "wie der Schulbetrieb ablaufen soll".
Als einen "Forderungskatalog" empfindet die Schulleiterin das Eckpunktepapier. Forderungen, die sie inhaltlich sogar in weiten Teilen unterschreiben würde, wie sie selbst sagt. Bloß gebe es keine Umsetzungshilfen. "Die Ventilatoren hat sich das Kollegium vom eigenen Geld im Baumarkt gekauft." Die Hälfte des Hortpersonals ist in der Risikogruppe und kann nicht mehr arbeiten.
Anforderungen sind "illusorisch"
"Normalbetrieb" verspricht der Berliner Senat den Eltern. Doch was ist normal, wenn Angestellte im Öffentlichen Dienst sich die notwendige Ausstattung selbst besorgen müssen? Zum Normalbetrieb gehört auch der Anspruch an die Schulen, Kinder, die wegen Zugehörigkeit zur Risikogruppe nicht zur Schule kommen können, auf demselben Niveau zu beschulen wie die Restklasse. Woher die Kapazität nehmen, fragt sich die Schulleiterin. Als schlicht "illusorisch" bezeichnet Astrid-Sabine Busse diese Anforderung. Als Vorsitzende des Interessenverbands Berliner Schulleitungen ist sie zunächst mal froh, dass die erste Woche Schule geschafft ist. Und sie hofft auf den Erfindungsgeist ihrer Kollegen. "Das ist eine Herausforderung, wie wir sie noch nie hatten. Vieles müssen die Schulen einfach in Eigenverantwortung schaffen."
Doch das ist schwierig, wenn es keinen bundesweiten Fahrplan gibt und die wichtigsten landesweiten Vorgaben erst bekannt werden, wenn das Schuljahr quasi wieder losgeht. "Am Mittwoch der letzten Ferienwoche hatten wir unsere Gesamtkonferenz mit dem Kollegium. Um 11 Uhr kam die Sekretärin rein und brachte den Masterhygieneplan, der gerade vom Senat eingetroffen war. Da blieben noch zwei Tage Zeit zur Umsetzung." Auch in anderen Bundesländern klagen die Schulen über schlechte und zu späte Kommunikation.
Homeschooling - ja, aber auf welchem Portal?
Und auch wenn Regeln zum Händewaschen und Maskentragen oder Pfeile auf dem Boden noch relativ schnell und unkompliziert einzuführen sind, so wird es beim Lüften schon schwieriger. "Ich habe alle Griffe an den großen Fenstern vom Hausmeister abmontieren lassen, damit mir nicht so eine Katastrophe wie in Hamburg passiert", sagt die Berliner Direktorin. In Hamburg war in der ersten Schulwoche ein Junge aus dem ersten Stock gestürzt und schwer verletzt worden. Das Fenster im Klassenraum hatte weit aufgestanden - zur Belüftung gegen das Coronavirus.
Neben dem Problem, im Unterricht für gute Belüftung zu sorgen, dass sich im Herbst noch zuspitzen wird, gibt es bundesweit auch keine Lösung für die Frage, wie man im Notfall Homeschooling durchführen könnte. Es müsste den strengen Datenschutzregeln entsprechen, aber genug Kapazität für ganze Schulklassen haben. Keine der üblichen Plattformen, die 20 Kinder und mehr miteinander vernetzen könnten, erfüllt diese Bedingungen. "Egal, welches wir für Videokonferenzen mit den Kindern wählen würden, man läuft Gefahr, sich strafbar zu machen", erläutert die Schulleitung.
"Während des Lockdowns hat es viele Datenschutzverstöße gegeben, gerade dann, wenn die Lehrer sehr engagiert waren und auf eigene Faust Portale gesucht haben, um sich mit den Kindern zu vernetzen", beschreibt Stephan Wassmuth, Vorsitzender des Bundeselternrats, das Problem. "Wenn man die Kollegen aber auch im neuen Schuljahr ohne Rechtssicherheit lässt, macht das natürlich die Motivation kaputt, in eigener Initiative zu handeln."
Kein Breitband, kein Wlan, keine Geräte
Wie schlecht die Schulen bundesweit digital aufgestellt sind, erklärt Udo Beckmann, Vorsitzender der Lehrergewerkschaft VBE. Endgeräte, Fachpersonal, technische Infrastruktur - fast alles fehlt aus seiner Sicht. "In manchen Schulen gibt es keinen Zugang zum Breitbandnetz, in manchen Schulen gibt es kein WLAN. Laptops fehlen fast überall. Der Support ist nicht sichergestellt und die Schulleitungen werden beim Schreiben der Anträge alleine gelassen." Beckmann sieht die Schulen nicht besser aufgestellt als vor Beginn der Pandemie.
Stephan Wassmuth vom Bundeselternrat bedauert, dass die Bundesländer für das neue Schuljahr nicht mehr von den Ansätzen und Ideen übernommen haben, die vor den Ferien unter Zeitdruck entwickelt worden waren: das Lernen in kleinen Gruppen mit halber Klassenstärke zum Beispiel. "So war es vor den Ferien auch möglich, im Unterricht die nötige Distanz zu halten. Im Normalbetrieb für das jetzige Schuljahr ist kein Abstand mehr möglich." Die Berliner Rektorin erinnert sich gut an jene Phase, als der Schulbetrieb wieder langsam startete: "Die Kollegen berichteten mir, dass sie mit dem Stoff kaum nachkamen. Obwohl die Kinder nur abwechselnd und dadurch viel weniger Unterricht hatten, kamen sie schneller voran, weil der Unterricht so intensiv war."
Trotz vieler Unsicherheiten und widriger Umstände ist die Stimmung an der Schule gut. Das Kollegium ist in dieser Woche vollständig angetreten, obwohl mehrere Lehrerinnen mit chronischen Erkrankungen zur Risikogruppe gehören. Die selbst entwickelte Kontaktsperre zwischen den Schülern unterschiedlicher Jahrgänge funktioniert bislang. "Für manche ältere Kinder ist das sogar ganz angenehm", sagt ein Lehrer. "So haben sie neuerdings Ruhe vor ihren jüngeren Geschwistern."
Quelle: ntv.de