
Protest vor dem Bundeshaus in Bern am 19. März.
(Foto: picture alliance/dpa/KEYSTONE)
Die Regierung in Bern hat die zwei Jahrhunderte währende Neutralität aufgegeben, um sich auf die Seite der Ukraine zu stellen. Seither debattiert das Land über die Folgen, über "Drecksgelder aus aller Welt" - und eine neue militärische Ausrichtung.
Nachdem die Bilder und Videos von den Toten in Butscha weltweit bekannt wurden, reagierte auch die Schweiz empört. Das Außenministerium twitterte am 3. April: "Diese Geschehnisse sowie alle anderen mutmaßlichen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht bedürfen dringlich einer unabhängigen internationalen Untersuchung." Die Formulierung gewährte Einblicke in die Strategie der Regierung in Bern. Während Deutschland, weitere EU-Staaten, die USA, Großbritannien, Japan und Australien von Kriegsverbrechen sprachen und mit dem Finger auf Russland zeigten, verzichtete die Schweiz auf jedwede Beschuldigung des Kremls für die beklagten "Geschehnisse und mutmaßlichen Verstöße" gegen die Menschenrechte.
Prompt gab es Kritik. Der Regierung wurde - etwa von den Sozialdemokraten - abermals eine zögerliche Haltung bescheinigt, um das Geschäftsmodell der Schweiz zu bewahren, das eng an die Neutralität gebunden ist. So hatte die Alpenrepublik ganz offiziell bei Anlegern in Russland "mit der Rechtssicherheit sowie politischen Stabilität und Neutralität" geworben. Neben Großbritannien ist die Schweiz das Schlaraffenland für russische Oligarchen und Superreiche. Eine ganze Industrie ist darum entstanden. Über die Schweiz wird der Großteil des russischen Rohstoffhandels abgewickelt, dort sind massenweise Antiquitäten russischer Eigentümer eingelagert.
Nach Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine wollte sich das Land zunächst auf die Position zurückziehen zu helfen, dass von der EU verhängte Sanktionen nicht über Unternehmen in Zürich oder Genf umgangen werden können. Schon das sorgte für Entsetzen in In- und Ausland, da der Eindruck entstand, die Eidgenossen stellten politische Tradition über das Leiden der Ukrainer. Bern korrigierte sich und hob die Neutralität faktisch auf. Bundespräsident Ignazio Cassis - eine Art Oberhaupt der Regierung - sprach von einem "in diesem Umfang einmaligen Schritt".
"Drecksgelder aus aller Welt"
Mit anderen Worten: Die Schweiz möchte nach dem Ende des Krieges wieder so sein wie früher. Das führte zu dem Eiertanz, wie er in dem Tweet des Außenministeriums zum Butscha-Massaker zum Ausdruck kam: Es werden Tote beklagt, ohne Russland zu beschuldigen. Die Sozialdemokraten (SP) kritisieren eine viel zu zögerliche Haltung bei der Durchsetzung der Sanktionen - auch unabhängig vom Krieg in der Ukraine. "Wir müssen dafür sorgen, dass wir in der Schweiz nicht einfach alle Drecksgelder aus aller Welt annehmen und dann wegschauen", sagte die SP-Vorsitzende Mattea Meyer dem "Tages-Anzeiger". Statt Gelder nur zu blockieren, müssten sie beschlagnahmt werden.
Privatpersonen und Institutionen sollen melden, ob sie von Vermögen wissen, das unter die Auflagen fällt. Eine Taskforce wie in Deutschland, die gezielt nach Werten sucht, existiert nicht. Ergebnis der bisherigen Bemühungen: Bis 7. April waren 7,5 Milliarden Franken eingefroren - die Schweizer Bankiervereinigung geht von 150 bis 200 Milliarden Franken in russischem Besitz in der Alpenrepublik aus. Unbekannt ist, wie viel Geld davon Personen gehört, die von den Sanktionen betroffen sind. Eigentümer hatten nach Kriegsbeginn mehrere Tage, Vermögen außer Landes zu schaffen. Die SP fordert daher eine Taskforce nach internationalem Vorbild.
Bundespräsident Cassis, der auch Außenminister ist, verteidigt seinen Kurs, den er so erklärt: "Die Neutralitätspolitik ist kein Dogma, sondern ein flexibles Instrument unserer Außen- und Sicherheitspolitik." Der Liberale rät dazu, dass Staat und Diplomatie kühlen Kopf bewahren sollten. Zuerst müsse der Internationale Strafgerichtshof untersuchen, wer verantwortlich sei für die Gräueltaten in Butscha und anderswo.
"Ende der Igel-Schweiz"
Allerdings scheint die Kritik Spuren zu hinterlassen. Am 8. April meldete sich das Außenministerium nach dem russischen Bombenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk mit vielen toten Zivilisten, darunter Kindern, erneut auf Twitter zu Wort. Es erklärte, gegenüber dem russischen Botschafter in Bern das "potenzielle Kriegsverbrechen" vehement verurteilt zu haben. In der UN-Vollversammlung votierte die Schweiz für den Rausschmiss Russlands aus dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen.
Begleitet wird die Debatte über die Umsetzung der Sanktionen von einer Diskussion zur Neuauslegung der Neutralität. Cédric Wermuth, neben Meyer ein weiterer Vorsitzender der SP, wirbt dafür, nicht wegzuschauen: "Wer Geschäfte macht mit Autokraten, ist nicht neutral, sondern finanziert ihr Regime und ihre Kriege."
Auch Cassis' Parteichef, der Vorsitzende der eidgenössischen FDP, Thierry Burkart, plädiert für ein "Ende der Igel-Schweiz" und will die seit Jahren bestehende "Zusammenarbeit mit der NATO massiv verstärken". Auf der Webseite der Liberalen schrieb er, der Angriff Russlands auf die Ukraine offenbare "schonungslos", dass sich die Schweiz in einer sicherheitspolitischen Sackgasse befinde. "Weder aus technologischer noch aus finanzieller Sicht kann heute eine auf sich gestellte Verteidigung gewährleistet werden." Ein Angriff "auf uns" sei kaum vorstellbar - wenn, dann würde es wohl die Demokratien in der Nachbarschaft treffen. Deshalb müsse die Schweiz gerüstet sein. Ein NATO-Beitritt sei wegen der Neutralität allerdings keine Option.
Die Sache mit den Uhren
Gegen diese Linie stellt sich die nationalkonservative Schweizer Volkspartei (SVP), die wie die FDP und die SP zur Regierung gehört - formale Koalitionen werden in Bern nicht gebildet. Die SVP verabschiedete auf ihrer Konferenz vergangenes Wochenende in Chur bei nur einer Gegenstimme eine Resolution, in der die Delegierten für bewaffnete Neutralität durch eine stärkere Verteidigungsfähigkeit warben, aber nicht in der NATO oder der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU.
Der SVP-Nationalratsabgeordnete Roger Köppel, Chefredakteur der "Weltwoche", erntete stehende Ovationen für seine Rede. Darin nannte er die Aussagen von FDP-Chef Burkart "brandgefährlich". Ein NATO-Beitritt heiße: "Dann werden Schweizer Soldaten in Leichensäcken zurückkommen von den Schlachtfeldern, die andere Nationen eröffnet haben. Das dürfen wir nicht zulassen." Die Regierung habe unter dem Druck einer "Lava der Emotionen", des Auslands und "vieler Schweizer Firmen" die bisherige Position "wie in einem Akt der Selbsthypnose" preisgegeben.
Das Beispiel Russland zeige, wohin das führe, erklärte Köppel. "Sie haben von diesen Uhren gelesen", sagte er zu den Delegierten. Köppel hatte nach eigenen Aussagen am 24. März in einem Podcast seiner Zeitung bekannt gemacht, dass russische Behörden zwei Tage zuvor in Moskau Schweizer Luxus-Uhren in Millionenwert beschlagnahmt hatten - Köppel sieht darin eine Rache für den Verzicht auf die Neutralität im Falle des Kremls. Da der Chefredakteur unter Verdacht steht, geheime Informationen aus dem Parlament verraten zu haben, wird nun gegen ihn ermittelt. Zu seinem Motiv, über die Uhren gesprochen zu haben, sagte er: "Das wollte man unter dem Deckel halten in Bern."
Quelle: ntv.de