Vom Außenamt nach Bellevue Steinmeier ist angekommen
24.06.2017, 08:35 Uhr
Der wohl außenpolitischste Bundespräsident bisher: Frank-Walter Steinmeier.
(Foto: picture alliance / Bernd von Jut)
Wer sich die Reiseroute des Bundespräsidenten ansieht, könnte annehmen, es habe sich nichts geändert. Ein neues Amt, aber sonst ist alles wie immer. Ein rastloses Leben im Flugzeug. Aber der Eindruck täuscht.
Frank-Walter Steinmeier ist immer noch viel unterwegs, aber neben Paris, Rom und Brüssel heißen die Ziele jetzt auch München, Wittenberg, Aachen, Hannover, Bonn, Kassel, Potsdam. Dazu kommen alle möglichen Orte in der deutschen Provinz, die er als Außenminister bestimmt hundert Mal überflogen aber nie besucht hat. Jetzt schon. Einen nach dem anderen. Und es scheint ihm Spaß zu machen: eine neue Aufgabe, ein anderes Tempo, vor allem aber die Herausforderung, seinem Amt als Bundespräsident seinen ganz persönlichen Stempel aufzudrücken.
Das Oberstufenzentrum "Handel 1" in Berlin-Kreuzberg ist eine der größten Berufsschulen in Europa. 5000 Schüler zwischen 17 und 21 Jahre werden hier unterrichtet, der Migrationsanteil ist überdurchschnittlich hoch – Frank-Walter Steinmeier will wissen, wie Jugendliche heute ticken. Hier ist er genau richtig. Der Bundespräsident hat es sich in seine Agenda für die kommenden fünf Jahre geschrieben, mit jungen Leuten ins Gespräch zu kommen. Er will verhindern, dass sich eine ganze Generation komplett von der Gesellschaft abwendet, oder anders gesagt, der Gesellschaft verlorengeht. Steinmeier ist Vater einer zwanzigjährigen Tochter, die Themen ihrer Generation sind ihm vertraut. Aber Merit ist nur eine von Millionen Jugendlichen in Deutschland und außerdem in behüteten und sogar privilegierten Verhältnissen aufgewachsen, die nicht für jede Familie gelten. Also geht er raus ins pralle Leben, um sich ein Bild zu machen.
"Reden ein Stück aneinander vorbei"

"Noch ein Bild von uns allen, bitte!" Steinmeier mit Berufsschülern in Berlin-Kreuzberg.
(Foto: picture alliance / Bernd von Jut)
An der Berufsschule in Berlin wird er bereits von einem kleinen Empfangskomitee erwartet. Gutgelaunt schüttelt Steinmeier die Hände der jungen Leute. Am Schluss bemerkt er aus dem Augenwinkel einen jungen Mann in der zweiten Reihe: "Da haben wir noch einen vergessen!" Noch ein Händedruck. Steinmeier ahnt, was die Jugendlichen wollen. Aber 16 Selfies? Das würde zu lange dauern, also fordert er die Fotografen auf: "Noch ein Bild von uns allen, bitte!" Das eigentliche Gespräch findet dann in einem typischen Unterrichtsraum statt: weiße Wände, weiße Tafel, weiße Lamellenvorhänge, weiße Tische – nüchterner geht es kaum. Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender, die ihn begleitet, erzählen von ihrem Weg aus der ostwestfälischen Provinz bis ins Schloss Bellevue – ein spontanes Warm-up, um ins Gespräch zu kommen. Das Eis ist schnell gebrochen, die Jugendlichen hören zu, stellen Fragen, erzählen von dem, was sie bewegt, wie es in ihrem Leben weitergeht, ob sie nach der Ausbildung einen Job bekommen und eine eigene Wohnung finden, was sie von Politik und Politikern erwarten.
Das Gespräch dauert länger als geplant, Steinmeier, der die wachsende Kluft zwischen den Generationen, vielleicht auch den gesellschaftlichen Schichten, nicht hinnehmen will, ist zufrieden; ein Anfang ist gemacht. Nach den ersten drei Monaten seiner Präsidentschaft beschleicht ihn gelegentlich ein ungutes Gefühl, weil "wir ein Stück aneinander vorbeireden": die Älteren und die Jüngeren, die Wohlhabenden und die weniger Wohlhabenden, die Politiker und die, für die Politik gemacht wird. Das ist nicht neu, auch für Steinmeier nicht, der als Bundestagsabgeordneter viel in seinem Wahlkreis in Brandenburg unterwegs war. Aber als Bundespräsident erlebt er das praktisch täglich und viel geballter als zuvor.
Schon sehr früh hat Steinmeier gesagt, dass ein Bundespräsident die Welt nicht besser machen könne als sie ist, aber dass er sie den Menschen erklären könne. Und er wollte von Anfang an ein "Mutmacher" sein. Zuhören, erklären, Mut machen, das ist sein Ziel. Dass dafür viel Geduld erforderlich ist, schreckt einen wie Steinmeier nicht ab, nicht nach zwei Amtszeiten als Außenminister. Als er mit den Berufsschülern in Berlin spricht, warten draußen Journalisten und Kamerateams auf ihn. "Tut mir leid, dass es länger gedauert hat", entschuldigt sich Steinmeier.
Aber das stimmt nicht ganz. Er mag bedauern, dass die Reporter warten mussten, nicht aber, dass der Termin mit den Schülern länger gedauert hat. Denn das ist es, was er will und was er sich vorgenommen hat: Zeit haben für die Anliegen der Menschen, deren Bundespräsident er jetzt ist, zuhören, auch wenn vermutlich gar nicht jeder, der ihn anspricht, tatsächlich eine Antwort haben will. Manche wollen dem Bundespräsidenten einfach mal die Hand schütteln oder ein gemeinsames Foto. Er macht das gern, ist nahbar, oft greift seine Frau dann nach dem Handy und springt spontan als Fotografin ein.
Steinmeier ohne Außenpolitik? Nein.
Und dann gibt es Situationen, die selbst für einen Politprofi wie ihn nicht alltäglich sind. Auf ihrer sogenannten "Deutschlandreise", den Antrittsbesuchen in den Bundesländern, haben Steinmeier und Elke Büdenbender im hessischen Bensheim ein Sterbehospiz besucht. Eine unheilbar kranke Frau hatte sich, als sie von dem bevorstehenden Besuch erfuhr, ein Gespräch mit dem Bundespräsidenten gewünscht. Steinmeier, dessen Vater nach schwerer Krankheit in einem Hospiz gestorben ist, erfüllt der Frau ihren Wunsch. Am Ende sei es ein "gutes Gespräch über Leben und Tod, über die letzte Wegstrecke" gewesen und man habe sich "in dem Wissen verabschiedet, sich in diesem Leben nicht wiederzusehen". Steinmeier, der sich zu seinem christlichen Glauben bekennt, räumt ein, dass diese Situation nicht einfach war, das Gespräch lange in ihm nachgewirkt habe, aber auch für diese Erfahrung sei er dankbar.

Heikler Termin, glänzend absolviert: Steinmeier beim israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.
(Foto: picture alliance / Bernd von Jut)
Frank-Walter Steinmeier war so lange das Synonym für deutsche Außenpolitik, dass man sich fragen musste: wie soll das denn gehen? Steinmeier im Bellevue, ohne Außenpolitik? Die Antwort lautet: gar nicht. Steinmeier ist der "außenpolitischste" Bundespräsident, den das Land je hatte. Dass seine erste Auslandsreise nach der Wahl zum Staatsoberhaupt zu unseren westlichen Nachbarn nach Paris ging, war klar. Aber wer erwartet hatte, er würde danach selbstverständlich nach Polen reisen, sah sich getäuscht: Steinmeier fuhr nicht nach Warschau sondern nach Straßburg. Seine Rede vor dem EU-Parlament – ein klares Zeichen für ein starkes Europa. Eigentlich keine Überraschung: noch als Außenminister hatte er angekündigt, auch weiter für die europäische Idee zu kämpfen. Die Abgeordneten in Straßburg dankten mit stehenden Ovationen.
Auch die nächste Station bewusst ausgewählt: ein früher Antrittsbesuch des deutschen Bundespräsidenten in Athen sollte als ein klares Signal an die gebeutelten Griechen, die um ihr Überleben in der Eurozone kämpfen, verstanden werden. Die Botschaft: Ihr gehört zu Europa und seid uns von Herzen willkommen, es geht nicht nur um Geld, es geht auch um gemeinsame Werte! Balsam auf die Wunden der Griechen nach all den Demütigungen und der harten Kritik, die immer wieder auch vom deutschen Finanzminister kam.
Wann kommt der Besuch beim "Hassprediger"?
Steinmeier beherrscht die hohe Kunst der Krisendiplomatie so schlafwandlerisch sicher, dass die Bundeskanzlerin ihm beruhigt die heikle Mission anvertrauen konnte, das Verhältnis zu Israel zu kitten, nachdem Sigmar Gabriel in Jerusalem für einen Eklat gesorgt hatte. Der Außenminister hatte mit einem Treffen mit Regierungskritikern Ministerpräsident Netanjahu derart verärgert, dass der ein Treffen mit Gabriel kurzfristig platzen ließ – mehr als eine Verstimmung in den deutsch-israelischen Beziehungen, die Steinmeier kaum zwei Wochen später elegant ausräumen konnte, ohne dabei seinen Nachfolger im Auswärtigen Amt bloßzustellen. Chapeau! Für deutsche Politiker ist jede Israel-Reise besonders, auch für Steinmeier, der mehr als 20 Mal dort war. Dieses Mal lag jedes Wort auf der Goldwaage, am Ende ist alles gut gegangen, zur großen Erleichterung aller, auch des Bundespräsidenten selbst.
Keine Frage, wann er wohin fährt, wird genau beobachtet, noch genauer vielleicht nur, wohin er gerade nicht fährt. Für einen Besuch in Washington gibt es derzeit im Bundespräsidialamt keine konkreten Pläne. Steinmeier – damals noch Außenminister - hatte Präsident Trump im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf einen "Hassprediger" genannt, ein Treffen zwischen den beiden dürfte also mindestens heikel werden. Auch eine Reise nach Moskau steht aktuell nicht an. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass Steinmeier als Bundespräsident nicht nach Washington und Moskau reist.
Frank-Walter Steinmeier wurde oft gefragt, ob er seinen Job als Außenminister nicht vermissen würde. Die Antwort lautet: nein. Ehrlicherweise wohl: nicht mehr. Dass der Übergang hart war, will er gar nicht verhehlen, aber inzwischen – nach 100 Tagen - sei er angekommen. Schritt für Schritt. "Und jetzt bin ich da". Auch weil die Möglichkeiten, die er jetzt habe, größer seien als erwartet. Dasselbe gilt aber auch für die Erwartungen an ihn.
Quelle: ntv.de