Massenmörder Breivik "ein einsamer Wolf" Stoltenberg: Offenheit folgt auf Gewalt
27.07.2011, 16:52 Uhr
Ein Regierungschef ringt um Fassung: Stoltenberg kannte viele Opfer persönlich.
(Foto: REUTERS)
Norwegens Regierungschef Stoltenberg will auf die blutigen Anschläge mit Demokratie und Offenheit reagieren. "Wir lassen uns nicht einschüchtern", sagt er und kündigt zugleich an, die Polizeiarbeit überprüfen zu lassen. Derweil verdichten sich die Hinweise, dass der Attentäter allein gehandelt hat. Der Geheimdienst nennt ihn "völlig normal".
Norwegen lässt sich nach den Worten von Ministerpräsident Jens Stoltenberg durch die Anschläge von Oslo "nicht einschüchtern". Auf die Gewalt werde das Land mit mehr Offenheit und Demokratie reagieren, sagte der Sozialdemokrat. "Wir werden unsere Werte weiter entschlossen verteidigen."

Die Trauer bleibt: Ein Paar in Oslo vor der Kathedrale der Hauptstadt.
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Nach einer Zeit der Trauer würden die Reaktion der Polizei und die Sicherheitsmaßnahmen aber auf den Prüfstand gestellt, kündigte Stoltenberg an. "Die Organisation und die Kapazitäten der Polizei werden überprüft." Diese Zeit sei aber jetzt nicht gekommen: "Noch geht es darum, die Angehörigen der Opfer zu trösten und den vielen Verletzten beizustehen." Der Regierungschef kannte mehrere Opfer des Massakers auf Utøya persönlich. Er begrüße aber die Diskussion über die Sicherheit, so Stoltenberg. Ob er eine grundlegende Reform der norwegischen Sicherheitskräfte ins Auge fasst, ließ er offen.
Parteieintritte nehmen zu
Stoltenberg ist auch überzeugt, dass die Anschläge das Interesse der Norweger an Politik stärken würden. Er habe seit "viele wichtige Signale" dafür erlebt, dass Norwegen nach den Terroranschlägen "eine noch offenere und tolerantere Demokratie sein wird als vorher". Als Beispiel nannte er massive Eintritte bei politischen Parteien in Norwegen als Reaktion auf den Terror. Der Vorsitzende der Arbeiterpartei und Regierungschef sagte weiter:"Es ist für uns klar, dass es in Norwegen eine Zeit vor und eine Zeit nach dem 22. Juli gibt."
Am Freitag hatte der 32-jährige Anders Behring Breivik 76 Menschen getötet, die meisten davon bei einem rund einstündigen Amoklauf auf der Insel Utöya nahe Oslo. Stunden vorher hatte er durch einen Bombenanschlag im Regierungsviertel der Hauptstadt acht Menschen das Leben genommen. Breivik hat die Taten gestanden.
Als eine erste Konsequenz werden die Polizeikräfte in den beiden Anschlagsgebieten verstärkt. Nach Angaben einer Sprecherin der Polizeigewerkschaft will das Justizministerium umgerechnet rund 2,6 Millionen Euro für die Schaffung von hundert zusätzlichen Stellen in Oslo und dem Bezirk Nordre Buskerud zur Verfügung stellen. Diese sollten innerhalb der kommenden drei Monate mit ausgebildeten Polizeischülern besetzt werden, die bisher noch keine Stelle gefunden hätten
"Ein einsamer Wolf"
Nach Erkenntnissen des norwegischen Geheimdienstes ist der Attentäter Breivik ein Einzeltäter, der mit Berechnung getötet hat. Für seine Behauptung, gewaltbereite Komplizen in Norwegen und im Ausland zu haben, fehle jeder Beweis. Dem britischen Sender BBC sagte die Chefin des norwegischen Geheimdienstes PST, Janne Kristiansen: "Breivik hat allein gehandelt." Mehrere norwegische Zeitungen zitierten die Geheimdienstchefin zudem mit der Äußerung: "Dies ist ein einsamer Wolf, der unter alle unsere Radarsysteme schlüpfen konnte."
Der 32-Jährige hatte bei Verhören und vor dem Haftrichter behauptet, er habe Verbindung zu zwei "Zellen", die zur Ausführung weiterer Anschläge bereit seien. Kristiansen bestätigte, dass man dies weiter "mit höchster Intensität" überprüfe. Es gebe aber keine Indizien. Die Behauptungen Breiviks entstammten wahrscheinlich seinem Wunsch, "weiter im Zentrum der Aufmerksamkeit zu bleiben". Die norwegische Geheimdienstchefin bestätigte eine enge Zusammenarbeit mit dem britischen Geheimdienst MI5 wegen angeblicher Kontakte Breiviks mit rechtsradikalen Gruppen auf der Insel. Auch dazu gebe es bisher keine Erkenntnisse.
Geheimdienst widerspricht Anwalt

Kronprinz Haakon besuchte eine Moschee in Oslo - als Zeichen der Zusammengehörigkeit.
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Kristiansen wies zudem die Vermutung von Breiviks Anwalt Geir Lippestadt zurück, der 32-Jährige sei geisteskrank. "Ich begreife ihn als zurechnungsfähige Person, denn er hat sich für eine sehr lange Zeit auf eine Sache konzentrieren können." Kristiansen, die selbst als Anwältin gearbeitet hatte, sagte: "Er hat alles so richtig gemacht. Und nach meiner Erfahrung mit dieser Art Klienten sind sie völlig normal, auch wenn sie im Kopf ziemlich verquer sind. Und diese Person ist außerdem total böse."
Breiviks Anwalt Geir Lippestad hatte am Dienstag erklärt, er halte seinen Mandanten für geisteskrank. Dazu sagte Kristiansen, Lippestad sei kein Psychiater, "und das bin ich auch nicht". Der Attentäter soll demnächst im Ila-Gefängnis westlich von Oslo von zwei Rechtspsychiatern untersucht werden.
Der Attentäter hatte offensichtlich in einem Schützenclub trainiert. Der Osloer Pistolenclub teilte auf seiner Internetseite mit, dass Breivik von 2005 bis 2007 und erneut ab Juni 2010 Mitglied gewesen sei. Er habe an 13 Trainingseinheiten mit anderen sowie einem Wettbewerb teilgenommen, hieß es.
Auf dem Bauernhof von Breivik hatte die Polizei am Dienstag weiteren Sprengstoff kontrolliert explodieren lassen. Die Farm rund 160 Kilometer nördlich von Oslo sei von Breivik angemietet gewesen.
Einzelhaft unter Beobachtung
Breivik will den Bombenanschlag in Oslo und das Massaker auf der Insel Utøya über neun Jahre vorbereitet haben. Er wurde Dienstagabend in die Anstalt Ila westlich von Oslo für eine zunächst achtwöchige Untersuchungshaft gebracht.
Er wird in einer sieben Quadratmeter großen Zelle rund um die Uhr überwacht, um einen Selbstmord auszuschließen. Die ersten vier Wochen der Untersuchungshaft muss er mit fast kompletter Kontaktsperre verbringen. Nach den Angaben des Gefängnisdirektors Knut Bjarkeid in "Verdens Gang" gibt es in Breiviks Zelle nur Bett, Toilette, Stuhl und einen Tisch. In dieser Zeit darf der geständige Attentäter ausschließlich mit seinem Anwalt Geir Lippestad und der Polizei sprechen. Außerdem sollen zwei Rechtspsychiater mit einer mehrmonatigen Untersuchung des Inhaftierten auf seinen Geisteszustand beginnen.
Derweil sorgen zwei Ereignisse am Mittwoch für Aufregung in Norwegen. Nach dem Fund eines Gepäckstückes in einem Bus am Hauptbahnhof in Oslo evakuierte die Polizei am Vormittag das Gebäude und riegelte das Gelände ab. Polizeibeamte, Feuerwehrleute und Sanitäter wurden an dem Ort zusammengezogen. Ein ferngesteuerter Roboter entdeckte aber nur harmlosen Inhalt in dem Gepäckstück. Für Verwirrung sorgte auch die Warnung der Polizei vor einem Mann, der sich mit Breivik identifiziert haben soll. Der Fahndungsaufruf sei irrtümlich herausgegeben worden, sagte ein Polizeisprecher. Die Polizei suche nur nach einem Mann, der geistig erkrankt sei und nichts mit Breivik zu tun habe.
Rechsextreme in Deutschland
Nach dem Doppelanschlag gerät die rechtsextremistische Szene auch in Deutschland ins Visier der Sicherheitsbehörden. "Wir beobachten die rechtsextremistische Szene intensiv", sagte Innenminister Hans-Peter Friedrich der "Rheinischen Post". Zwar nehme die Zahl der Mitglieder rechtsextremer Gruppierungen ab, dafür steige die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten. "Sorgen machen mir insbesondere die sogenannten 'nationalen Autonomen', die sich zunehmend nach dem Beispiel der Linksautonomen formieren."
Eine rechtsextremistisch motivierte Tat in Deutschland nach dem Osloer Muster lasse sich nie ausschließen, sagte der CSU-Politiker. "Selbst wenn wir präventiv die Szene noch so intensiv beobachten, lässt sich nie ausschließen, dass sich Einzelne unbeobachtet selbst radikalisieren." Das gelte nicht nur für die rechtsextremistische Szene, sondern auch für die linksextremistische oder islamistische. Friedrich verwies auf die Dunkelziffer. "Wir kennen bei den Rechtsextremisten einige Gefährder, aber das Problem sind nicht die, die wir im Auge haben, sondern eher die, die sich im Verborgenen radikalisieren."
Quelle: ntv.de, dpa/rts/AFP