Politik

Berlin Tag & MachtSymbolpolitik statt Sparpolitik: Die Bürgergeld-Reform im Faktencheck

18.12.2025, 10:37 Uhr
imageEine Kolumne von Marie von den Benken
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Haben das Thema Bürgergeldreform nun abgehakt, aber was genau erreicht? Die Chefs von SPD und CDU, der Vize und sein Kanzler: Lars Klingbeil und Friedrich Merz. (Foto: picture alliance / dts-Agentur)

Neuer Name, 30 Prozent Kürzungen, null Prozent Problembehebung: Zur Adventszeit weht ein Hauch Symbolpolitik durch das Regierungsviertel. Hinter der Bürgergeld-Reform steckt mehr Theater als Effekt. Warum bleiben die wahren Einsparpotenziale ungenutzt?

Man kann der aktuellen Regierungs-Koalition einiges vorwerfen. Aber nicht, sie sorge für zu wenig Unterhaltung. Schon zu Ampelzeiten jubilierten Hauptstadtjournalisten darüber, wie verlässlich Regierungsbank-Protagonisten Anekdoten-Material für Titelseiten und Kommentarspalten lieferten. Seit Groko-Start aber kommen die Schlagzeilen-Trüffelschweine aus den Polit-Redaktionsstuben aus dem Lachen gar nicht mehr raus. Nüchtern betrachtet gab es während der Schaffensphase "Rot-Grün-Gelb" zwischen 2022 und 2025 eigentlich nur vier Dauer-Narrative, die in verschiedenster Variation den Social-Media-Boulevard rauf und runter gejagt wurden: Annalena Baerbock kann kein Englisch, Olaf Scholz schlumpft sich aus der Affäre, Christian Lindner will ein Verbrenner-Verbot-Verbot und Robert Habeck ist schuld an allem.

Als Carrie Bradshaw des Regierungsviertels begrüße ich die Entertainment-Bemühungen des neuen Kabinetts ausdrücklich. Seit die Bonnie und Clyde des Reichstags, Friedrich Merz und Lars Klingbeil, am Platz der Republik das Zepter schwingen, ist die Narrative-Vielfalt deutlich gestiegen. Im neuen Kabinett wird die Schlagzeilen-Verantwortung fair verteilt. Hier darf jeder mal ran.

Selbst Relevanz-Hinterbänkler wie Carsten Schneider, immerhin Umweltminister, beherrschte für ein paar Tage die Topnews-Rubriken. Gut, nicht mit politischen Geniestreichen. Noch nicht mal mit einem zünftigen Koalitionsstreit. Aber dafür hat er sich vom ersten Ministergehalt eine schicke Haartransplantation gegönnt. Beauty-Eingriffe auf der Regierungsbank. Das hatte es zuletzt gegeben, als Angela Merkel sich 2012 per politischer Liposuktion von Norbert Röttgen trennte.

Brangelina war gestern, heute ist Merbeil

Neben erweiterter Personaldecke zum Headline-Erzeugen punktet unsere aktuelle Regierung zusätzlich mit Arbeitsmoral. Wenige Tage vor Heiligabend waren während der Legislaturen zuvor schon längst besinnliches Weihnachtsingen in den heimischen Wahlkreisen und idyllische Familien-Schnappschüsse aus dem Privatarchiv angesagt. Der Politikbetrieb hingegen war weitestgehend eingestellt. Selbst AfD-Parlamentarier schleusten nur noch sporadisch fragwürdige Gäste in den Reichstag, die anschließend mit gezücktem Handy CDU/CSU- und SPD-Abgeordnete bepöbelten.

Diese Saison muss The Most Beautiful Time Of The Year erstmal warten. Statt Advents-Pathos und Weihnachtskeksbäckerei-Romantik tritt die Klingbeil/Merz-Armada noch am 17. Dezember vollzählig zur Arbeit an, wohnt einer wenig festlichen Regierungserklärung bei und peitscht einige brandheiße Politeisen durch das Kabinett. Darunter ein 50-Milliarden-Rüstungspaket als Weihnachtsgeschenk an alle "Ich würde für mein Land nicht kämpfen"-Hobbypazifisten. Und allen voran die Bürgergeld-Reform. Das Bürgergeld heißt jetzt nämlich Grundsicherung. Nun ist eine Umbenennung an sich noch kein tragfähiges Reformkonzept. Antisemitismus bleibt ja auch Antisemitismus, selbst wenn pseudointellektuelle Selektivhumanisten ihre "Gerüchte über Juden" (Theodor Adorno) in "Israelkritik" umetikettieren.

Aber auch da wird vom Team Merbeil (Merz/Klingbeil; so wie Brangelina, Sie verstehen?) substanzieller Unterbau direkt mitgeliefert. Sie ändern nämlich sogar inhaltlich. Nur halt nicht sehr effektiv. Nach langem Definitions-Gerangel serviert die Schwarz-Rot-Koalition pünktlich zum Fest der Liebe eine vermeintliche Sozialkostenbremse, die dummerweise eher für viele Diskussionen statt für viel Entlastung der Steuerkasse sorgt. Wochenlang hatte man sich intern in Grabenkämpfen verstrickt. Vor allem, um der eigenen Wählerbasis und vermuteten Neuwähler-Potenzialen Durchsetzungsstärke zu demonstrieren. Und jetzt verlieren am Ende doch alle.

Der typische GroKo-Kompromiss: Alle unzufrieden!

Während die SPD noch lange dafür attackiert werden wird, ausgerechnet als ehemalige Partei der Sozialstaats-Errungenschaften das Bürgergeld eliminiert zu haben, verspürt die Union latenten Druck von der anderen Seite. Ihrer Klientel ist das Ergebnis der kräftezehrenden Reform-Fehden zu moderat. Ein leuchtendes Beispiel für die Appeasing-Differenzen der Regierungspartner. Die SPD sieht ihre Daseinsberechtigung als Anwältin der Schwächeren. Die Union möchte den kontinuierlich in Richtung "Alice Weidel ist meine Kanzlerin!" wegrutschenden, wutpatriotischen Unterbau rechts des ursprünglichen eigenen Zielpublikums aktivieren. Dafür will sie wie der sehnsüchtig erwartete Messias der kompromisslosen Sozialstaatverschlankung wirken. Das kann allerdings nicht abendfüllend gelingen, wenn links von ihnen "die Internationale" singend stets Lars Klingbeils Berufssozialdemokraten stehen und sie per Koalitionsbruch-Drohung zum harschen Notfall-Tritt auf die Kürzungs-Bremse zwingen.

Am Ende dieser epischen Detail-Schachereien bekommt niemand, was er sich erhofft hatte. Am wenigsten die Betroffenen. Übrig bleibt bei der Bürgergeld-Neuordnung ein Kompromiss aus der Kategorie: wirkungslos. Symbolisch ambitioniert, praktisch folgenlos. Klar, auf dem Papier bringt die neue Grundsicherung teutonische Traditions-Eigenschaften wie Fleiß und Verantwortung zurück in die Bundesagenturen für Arbeit. Im Detail betrachtet kann man allerdings nicht von einem großen Wurf sprechen. Aber mal konkret: Wer als ehemaliger Bürgergeldempfänger die Regeln nicht befolgt, wird nun härter bestraft. Versäumt er es etwa, Bewerbungen zu schreiben, werden ihm die monatlichen Zuwendungen (aktuell 563 Euro als Einzelperson) um 30 Prozent (bisher 10) gekürzt. So weit, so mittelmäßig.

Warum auf Ozempic für die Staatskasse verzichten?

Gehen wir den Zahlen mal etwas auf den so genannten Grund. Besagte Kürzungen betreffen bislang lediglich 30.000 der knapp 4 Millionen Bürgergeldempfängerinnen und Empfänger. Experten gehen nicht davon aus, dass die nun beschlossene Reform diese Zahl spürbar erhöhen wird. Womit wir bei Adam Riese wären. Das ist nicht der neue Arbeitsminister, sondern der Vater des modernen Rechnens. Folgt man seiner mathematischen Expertise, sieht es so aus: Selbst, wenn die Regierung es schaffen würde, allen 30.000 Kürzungsbetroffenen drei Mal im Jahr für die maximale Zeit von drei Monaten den maximalen Betrag von 30 Prozent abzuziehen, würden man damit nur knapp 50 Millionen Euro einsparen (30.000 mal 169 Euro für drei Mal je drei Monate).

Keine Frage, 50 Millionen Euro sind viel Geld. Dafür könnte man beispielsweise ein Drittel von Florian Wirz kaufen oder 7.786 Monate lang die Visagistin von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche bezahlen (19.264,76 Euro für drei Monate, inklusive Reisekosten). Eine Regierung, der man spürbar abnehmen soll, sie würde mit gnadenloser Rigorosität daran arbeiten, den Staatshaushalt zu sanieren, würde an anderer Stelle jedoch deutlich größere Finanzspritzen generieren können. Allein durch Steuerhinterziehung entgehen Deutschland nach Schätzungen zwischen 75 und 125 Milliarden Euro pro Jahr.

Bei knapp 1.000 Milliarden Steueraufkommen sind das zwischen 7,5 und 12,5 Prozent der Gesamteinnahmen. Geld, das dem Staat zustehen würde. Dagegen wirken die vermutlich nie erreichten 50 Millionen Einsparungen durch die Bürgergeld-Reform ungefähr wie mein Privatvermögen gegen das von Bill Gates. Oder mal einfach ausgedrückt: Hätte man die 125 Milliarden Euro Fehlbetrag durch Steuerhinterziehung verfügbar, könnte man damit jedem der 4 Millionen Bürgergeldbezieher pro Monat 1.250 Euro mehr auszahlen und hätte am Ende des Jahres trotzdem noch 65 Milliarden Euro übrig. Statt Image-Schonkost und ständiger Konzept-Streitereien über den Diätplan für den Haushalt wäre ein konsequentes Vorgehen gegen Steuerhinterziehung das Ozempic für die Staatskasse.

Es stellt sich also die Frage: Warum passiert das nicht? Was hält die Regierung in Zeiten großer finanzieller Herausforderungen davon ab, dort drastische Maßnahmen zu ergreifen, wo die echte Kohlegenerierungsmaschine sitzt? Fakt ist: Bürgergeld-Empfänger gehören selten zu den großflächigen Steuerhinterziehern. Wenn es darum geht, dass der Staat wirtschaftlich angeschlagen ist und dringend sparen muss, wird aber immer zuerst und am intensivsten über sie diskutiert. Über die, die auf den 100 Milliarden hinterzogener Steuern sitzen, hingegen praktisch nie. Jeder kennt den Satz "Wir können nicht das Sozialamt der Welt sein". Den Satz "Wir können nicht das Steuerhinterziehungsparadies für Reiche sein" hingegen hört man nie. Darüber sollten wir mal nachdenken. Insbesondere unsere Politiker.

Quelle: ntv.de