"Blaue Mauer" in Trümmern Eine Skandalwahl ist es schon jetzt
04.11.2020, 10:08 Uhr
Es ist eine lange US-Wahl und sie ist noch nicht vorbei. Die Demokraten müssen sich fragen, wo ihre Fehleinschätzungen lagen. Trump ruft sich zum Sieger aus, aber ohne Grundlage. Biden mahnt zu Geduld. Was machen die Gerichte?
Nein, es gibt noch keinen Wahlsieger in den USA. Wer in den kommenden vier Jahren die Vereinigten Staaten aus der Jahrhundertkrise herausführen soll? Unbekannt. Das Machtpendel hat sich in dieser Nacht kaum in eine Richtung bewegt, trotz mehr als 100 Millionen vorab abgegebener Stimmen, monatelangem Getöse und Geringe. Am Morgen erklärt Trump sich zum Sieger, obwohl es dafür keine Grundlage gibt - jedenfalls noch nicht.
Die Bundesstaaten Florida, Texas, Ohio, und wohl auch North Carolina bleiben in republikanischer Hand. Die Hoffnungen der Demokraten auf eine "blaue Welle" sind zerstoben und eine Abkürzung zum Sieg dadurch frühzeitig blockiert. Nun gucken alle auf die von Donald Trump im Jahr 2016 zerstörte "blaue Mauer": Pennsylvania, Wisconsin und Michigan im Nordosten. Sie werden diese Präsidentschaftswahl entscheiden. Wer kann die Steine aufnehmen?
Zwei der drei Bundesstaaten reichen für den Sieg - doch die dortigen Behörden müssen noch Briefwahlstimmen zählen. In Pennsylvania kann dies bis Freitag dauern, hatten sie dort bereits vorab gewarnt.
Wir brauchen ein Ergebnis in der Wahlnacht, hatte US-Präsident Donald Trump immer wieder gefordert. Die Demokraten hatten ihre Wähler zugleich dazu ermutigt, vorab ihre Stimmen abzugeben. Trump setzte alles darauf, dass die meisten Republikaner am Wahltag persönlich abstimmen würden. Für seine Klientel hat er die richtige Taktik ausgesucht, sie gingen mindestens so begeistert wie vor vier Jahren an die Wahlurnen.
Und es ist doch wieder 2016
Es ist ein Déjà-vu von vor vier Jahren: Praktisch alle nationalen Umfragen haben auf einen Sieg Bidens hingewiesen, sogar mit noch größeren Abständen als für Hillary Clinton 2016. Der Amtsinhaber gewann bei Zehntausenden Simulationen der Statistikseite "FiveThirtyEight" nur in zehn Prozent der Fälle. Doch die Realität sieht anders aus. In Ohio baute Trump einen Vorsprung sogar noch aus, der ehemalige Battleground-Bundesstaat im Rostgürtel färbt sich damit wohl dauerhaft rot.
In Florida verlor Biden ebenfalls. Es hatte sich angedeutet, dass es sehr schwer werden würde. Der Demokrat schnitt in Umfragen unter Latinos dort schlechter ab als Clinton, und auch die verlor den Bundesstaat. Ganze 17 Prozent kommen aus dieser Wählergruppe, die dort ohnehin konservativer wählen als Latinos im Rest des Landes. Viele sind Familien von Exilkubanern, die allergisch auf linke Tendenzen reagieren. Trump hatte im Wahlkampf immer wieder Biden als Marionette des linken Parteiflügels der Demokraten dargestellt. Das scheint funktioniert zu haben - nicht nur in Florida.
Der einzige Lichtblick für die Demokraten ist derzeit Arizona. Diesen Bundesstaat wird Biden wohl von Trump zurückgewinnen. Wäre das nicht geschehen, sähe es viel düsterer aus für die Demokraten. Trump besteht darauf, dass dort alle Stimmen ausgezählt werden - aber nicht im Mittleren Westen, wo er vorne liegt.
Statt eines Siegers gibt es nun eine Hängepartie, für die beide Kandidaten bereits Heerscharen von Anwälten in Alarmbereitschaft versetzt hatten. Es wird ein Gezerre geben um die Zählung der Briefwahlunterlagen. Vorbereitet hat Trump dies, indem er immer die staatliche Post, den USPS, wiederholt als ineffektiv attackierte, vor ein paar Monaten ihren Chef auswechselte und vor allem immer wieder behauptete, dass Briefwahl zu Betrug einlade. Belege dafür gibt es keine.
Als in der Nacht klar wurde, dass Biden keinen schnellen Weg zum Sieg finden würde, vor allem weil Florida zum Präsidenten kippte und Ohio ebenso, trat der Demokrat ohne Konfetti vor die Kameras. Er mahnte, dass es weder an ihm noch an Trump sei, einen Sieger zu erklären, bevor alle Stimmen gezählt sind. "Wir müssen geduldig sein", sagte er: "Wir werden gewinnen."
Ein neues Bild fügt sich
Trump sah und sieht das anders. "Wir haben die Wahl gewonnen", tönte er danach im Weißen Haus und kündigte an, vor den Obersten Gerichtshof zu ziehen, um die Briefwahlauszählung zu stoppen. Im Jahr 2016 hatte Trumps Sieg erst in den frühen Morgenstunden (Ortszeit) festgestanden. Aber diesmal ist es noch knapper. Eine solche Menge an Briefwählern gab es noch nie, die Wahlbeteiligung war zudem vergleichsweise hoch.
Wenn diese Wahl wirklich am Ende das Oberste Gericht entscheidet, werden dies mehrheitlich konservative Richter tun, von denen Trump selbst drei nominiert hatte. All das monatelange Geraune über Wahlbetrug, den Zeitpunkt des Führungswechsels bei der so wichtigen Post, die konservative Vereinnahmung des Supreme Courts und Trumps voreilig verkündeter, weil noch nicht feststehender Wahlsieg, all dies fügt sich wegen der Situation am Tag nach der Wahl zu einem düsteren Bild zusammen.
Der bisherige Verlauf legt noch etwas nahe: Trotz Coronavirus, "Black Lives Matter"-Bewegung, Amtsenthebungsverfahren und vielem mehr, hat sich kaum etwas an den Mehrheitsverhältnissen der Gesamtwählerschaft geändert. Es gibt keine mehrheitliche Abwehrreaktion gegen Trump. Der Gedankengang der Demokraten, unter allen Bewerbern um die Kandidatur sei Biden derjenige, der gegen Trump besonders gut bestehen könnte, war womöglich eine Fehleinschätzung.
Quelle: ntv.de