Reisners Blick auf die Front Ukrainer werden von "Schwärmen von Drohnen heimgesucht"
14.11.2023, 08:39 Uhr Artikel anhören
Ein ukrainischer Soldat lenkt eine Drohne in einer Übung.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Zunächst gelangen der Ukraine mit den westlichen Marschflugkörpern spektakuläre Erfolge. Doch die werden seltener, weil es Russland immer besser gelingt, die Präzisionswaffen auszuschalten. Dazu produzieren sie ein Vielfaches der ukrainischen Drohnenzahl. Welche Folgen das hat, erklärt Militärexperte Markus Reisner im Gespräch mit ntv.de.
ntv: Seit einiger Zeit schon zeichnen Meldungen von der ukrainischen Front ganz unterschiedliche Bilder: Im Osten rund um Donezk hat demnach Russland die Initiative und greift an, während im Süden bei Cherson die Ukrainer in der Offensive sind. Wie hängt das zusammen?
Reisner: Etwa Mitte Oktober haben die Russen offensichtlich eine Offensivoperation begonnen, grob im Raum zwischen Kupjansk und Awdijiwka. Neben beiden Städten ist Swatowe ein weiterer Hotspot. Awdijiwka ist von einer Einschließung bedroht. Die Russen gehen hier mit ihren eigenen Kräften sehr rücksichtslos um. Sie versuchen permanent, mit kleinen Kampfgruppen anzugreifen, vor allem im Raum südlich von Kupjansk bis Swatowe. Awdijiwka versuchen die Russen in einer Zangenbewegung zu umschließen. Drohnenaufnahmen der ukrainischen Seite zeigen, dass die russischen Truppen dabei sehr hohe Verluste erleiden, aber dennoch nicht nachgeben.
Wie gut kann sich Awdijiwka halten?
Der Vergleich mit Bachmut drängt sich hier auf. Es gibt nur noch eine leistungsfähige Versorgungslinie, über die die ukrainischen Truppen Güter aus dem Westen in den Kessel hineinbringen können. Es ist ein Video aufgetaucht, in dem die 110. Brigade, die dort mit mehreren 1000 Mann im Kessel verteidigt, um Unterstützung bittet, weil sonst die Stadt nicht zu halten ist.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: privat)
Bekommen sie die?
Die Ukraine hat versucht, zwei Brigaden bereitzustellen - die 47. mechanisierte Brigade mit Leopard- und Bradley-Panzern ausgestattet, um der drohenden Zangenbewegung von Nordwesten etwas entgegenzusetzen, und die erste Panzerbrigade. Beide sollen mit Gegenangriffen verhindern, dass der russischen Seite eine Einschließung gelingt. Etwas nördlich davon bittet eine weitere Brigade ebenfalls mittels Video um Unterstützung, weil der Druck der russischen Seite so groß ist. Wenn wir jedoch aus dem Osten unseren Blick in den Süden und zum Dnepr richten, sehen wir weiter südlich eine andere Situation. Hier ist die Ukraine in der Offensive.
Warum schaffen die Truppen das dort?
Sie haben sehr intelligent begonnen, den Einsatz russischer Drohnen zumindest lokal begrenzt durch die Nutzung eigener Störmittel zu verhindern. Damit wurde es für die Ukraine möglich, über die letzten Wochen signifikante Kräfte auf die andere Seite des Flusses zu bringen, was dazu geführt hat, dass mittlerweile dort ungefähr ein Bataillon im Einsatz ist, also mehrere 100 ukrainische Soldaten. Das Problem ist aber, dass die Russen aus sicherer Distanz heraus vor allem durch den Einsatz von FAB-Gleitbomben diesen möglichen Brückenkopf angreifen. Und damit kommen wir von der taktischen auf die operative Ebene.
Was sehen wir dort? Welches Ziel verfolgen die Truppen jeweils?
Beide Seiten versuchen, sich gegenseitig dazu zu zwingen, Reserven einzusetzen. Die Russen wollen erreichen, dass die ukrainischen Truppen ihre kostbaren Reserven im Nordosten verbrauchen. Die Ukraine versucht mit dem Überschreiten des Flusses im Süden die Russen dazu zu bringen, kostbare Reserven aus dem Nordosten Richtung Süden zu verlegen, damit diese Kräfte nicht mehr für die offensive Einsatzführung zur Verfügung stehen.
Das klingt, als wäre die Situation quasi im Gleichgewicht, das stimmt aber vermutlich nicht, oder?
Das Problem der Ukrainer ist, dass die Russen im Bereich der Luftkomponente immer erfolgreicher die schon erwähnten FAB-Gleitbomben einsetzen. Jeden Tag zeigen Videos, wie sie mit diesen Bomben ukrainische Bereitstellungsräume angreifen. Da die Gleitbomben aber weite Strecken fliegen, können russische Kampfjets sie aus sicherer Distanz abfeuern, jenseits der Reichweite der ukrainischen Flugabwehr. Die Ukraine hingegen hat inzwischen zunehmend Probleme, ihre aus dem Westen gelieferten Präzisionswaffen einzusetzen.
Darum kommen inzwischen weniger Meldungen über spektakuläre Einsätze von Storm Shadow, SCALP oder ATACMS?
Leider muss man annehmen, dass viele dieser Systeme mittlerweile durch die russische Seite gejammt werden, also in der Zielfindung gestört und zum Absturz gebracht. Viel verheerender noch: Den Russen gelingt es inzwischen auch, die ukrainischen Drohnen zu circa drei Viertel zu jammen. Dadurch können die Ukrainer zum Beispiel das von ihnen erfundene System der "First Person View"-Drohne nicht mehr so effektiv einsetzen wie in den Monaten zuvor.
Ganz kurz: "First Person View" bedeutet, dass die lenkende Person eine Perspektive hat, als säße sie in der Drohne drin?
Genau. Diese technologische Neuerung ist innerhalb der Drohnenszene entwickelt worden. Da haben ein paar Geeks Drohnen entwickelt, die man mit einer VR-Brille verknüpft und mittels Virtual Reality dann so lenkt, als wäre man Pilot in der Drohne. So sind diese Leute spektakuläre Rennen etwa durch Schornsteine geflogen.
Die Ukrainer haben sich das System abgeguckt?
Sie haben das adaptiert, ja, in ihren kleinen Hinterhof-Produktionsstätten. Sie nehmen diese Drohne und die Systematik der Steuerung, bewaffnen sie aber mit Sprengstoff, also zum Beispiel mit dem Gefechtskopf einer Panzerrakete. Dann steuern sie diese Drohne gezielt in einen Bunker. Oder in ein Kraftfahrzeug. Das hat die Ukraine sehr innovativ auf dem Gefechtsfeld angewandt, baut die Geräte aber immer noch in kleiner industrieller Fertigung, weil sie keinen umfangreichen militärisch-industriellen Komplex mehr hat. Anders Russland: Die Russen haben nun begonnen, diese "First Person View"-Drohnen auch zu bauen, aber in einer Industrieproduktion. Sie fluten das Gefechtsfeld mit ihren Drohnensystemen und jammen gleichzeitig diejenigen der Ukraine.
Besonders fatal, weil Drohnen inzwischen eine so große Rolle spielen?
Dank Drohneneinsatz sieht jede der beiden Seiten, was die andere tut. Aber die Russen sind zunehmend in der Lage, ihre Störsysteme über die ganze Front einzusetzen und ukrainische Drohnen außer Gefecht zu setzen. Im Gegensatz zu Russland hat die Ukraine sehr begrenzte Ressourcen. Sie hat nun versucht, ihre Störer im Süden zu komprimieren und dadurch eine Überlegenheit im elektromagnetischen Feld erreicht. Im Nordosten ist ihr das nicht möglich.
Sie erwähnten, dass auch die Marschflugkörper und ATACMS inzwischen gejammt werden. Das sind lauter vom Westen gelieferte Präzisionswaffen. Woher hat Russland plötzlich auch diese Fähigkeiten?
Die Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow oder SCALP haben mit den umgebauten Bomben wie ATACMS gemeinsam, dass sie ihre Präzision mittels GPS-Signal erreichen. Nach der Lieferung gab es erste Erfolge, aber dann hat das nachgelassen, weil die Russen mehr und mehr in der Lage sind, die GPS-Suchköpfe zu stören. Sie haben schon während des Kalten Krieges große Fähigkeiten im elektromagnetischen Feld gehabt und sind dort noch immer sehr gut aufgestellt. Zwar kann die Ukraine hin und wieder Erfolge verbuchen, erst jüngst wurde neuerlich ein Schiff getroffen, aber dafür wurde eine größere Anzahl von Marschflugkörpern gestartet und offensichtlich hat nur ein einziger tatsächlich sein Ziel getroffen.
Klingt das nach einem weiteren Argument dafür, dass Deutschland möglichst bald den Taurus liefert? Der ist ja seinerzeit extra dafür konzipiert worden, der russischen Flugabwehr zu entgehen.
Der Taurus-Hersteller sagt, dass dieser Marschflugkörper besonders resistent ist gegen Störversuche im elektromagnetischen Feld. Ob sich das bewahrheitet, müsste man im Versuch tatsächlich feststellen. Und dann würde es wieder eine Zeit lang dauern, bis die Russen sich angepasst haben. Das ist immer dann der Fall, wenn die ersten Systeme abstürzen und der Gegner sie analysieren kann: "Aha, auf dieser Frequenz arbeitet der …" Aus diesem Grund sind die USA bei Waffenlieferungen oft etwas zurückhaltend oder bauen - wie beim Abrams Panzer - zuvor noch Funktionen aus, weil das Pentagon nicht möchte, dass die russische Seite die Waffen studieren kann.
Hat man aber auch schon Erkenntnisse über russische Waffen gewonnen?
Eines der ersten russischen Flugabwehrsysteme vom Typ Pantsir, das den Ruf hat, dass es den Himars erfolgreich abfangen kann, hat man aus der Ukraine nach Ramstein gebracht und von dort in die USA, um es zu untersuchen.
Es klingt so, als wäre es derzeit vielleicht weniger entscheidend, ob man 12 oder 15 Leopard-Panzer auf dem Schlachtfeld hat, sondern die relevantere Frage wäre: Wer beherrscht das elektromagnetische Feld und kann die Waffen des Gegners ausschalten?
So entsteht für die ukrainischen Truppen ihr derzeit größtes Problem: In dem Moment, wo sie in die Bewegung kommen, werden sie sofort von Schwärmen von Drohnen heimgesucht. Und das gilt es zu verhindern. Wenn man jetzt den zukünftigen Verlauf des Konflikts betrachtet, aus einer strategischen Sicht, dann muss es um eine Konsolidierung der Ukraine über den Winter gehen. Das Schwergewicht der Unterstützungsleistungen des Westens müsste jetzt im Bereich der Fliegerabwehr liegen, weil die Ukraine damit einer möglichen neuen strategischen Luftkampagne der Russen etwas entgegensetzen kann. Nur wenn das gelingt, kann die Ukraine ihre kritische Infrastruktur erhalten, kann sich parallel dazu neu ordnen und dann im Frühjahr wieder in die Offensive gehen.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de