Politik

Aufbegehren in Belarus Was Lukaschenko ins Wanken bringt

Frauen protestieren in Minsk für die Demonstranten, die während der aktuellen  Proteste festgenommen wurden.

Frauen protestieren in Minsk für die Demonstranten, die während der aktuellen Proteste festgenommen wurden.

(Foto: picture alliance/dpa)

All ihren Mut brauchen die Menschen in Belarus dieser Tage, um gegen Autokrat Lukaschenko aufzubegehren. Der stützt seine Macht auf Überwachung, Repressionen und stabile Wirtschaft. Doch Wandel scheint möglich - nach 26 Jahren.

Vor kurzem noch schien er unschlagbar: Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko konnte sich sicher fühlen in seinem sorgfältig aufgebauten autoritären System - seit 26 Jahren. Doch nachdem er sich am vergangenen Sonntag mit fragwürdigen 80 Prozent der Stimmen zum Sieger der Präsidentschaftswahl erklärte, kommen die Machtstrukturen um ihn herum ins Schwanken. Menschen gehen an vielen Orten zum Protest auf die Straße, Streiks legen strategische Unternehmen lahm - der Mut so vieler überfordert die Sicherheitsbehörden. Am Donnerstag kamen rund 1000 Gefangene frei. Bürgermeister boten den Bürgern Gespräche an.

Ob die Protestler sich davon bremsen lassen, weiß niemand vorherzusehen. Zwischen Sonntag und Mittwoch hat die belarussische Polizei - oft auf die brutalste Art - fast 7000 Menschen festgenommen. Die Demonstranten, die nun freigelassen wurden, berichteten von schrecklichen Foltern und Demütigungen. Das trat eine neue Welle der Empörung los.

Als würden Menschen "in den Boden getrampelt"

"Wir haben gehört, wie Menschen in den Stockwerken unter und über uns geschlagen wurden. Es fühlte sich an, als würden die Menschen praktisch in den Beton getrampelt", erzählt etwa der russische Journalist Nikita Telischenko, der selbst in Minsk verhaftet wurde. Zum ersten Mal gibt es ernsthafte Zweifel, ob das Modell Lukaschenko, einerseits auf Repressionen und Überwachung aufgebaut, andererseits auf der scheinbaren Wirtschaftsstabilität, die nächsten Wochen überleben wird.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion folgte Belarus, das zu dem Zeitpunkt die modernste Großindustrie der UdSSR sowie eine starke Agrarwirtschaft vorweisen konnte, dem Beispiel anderer Ex-Sowjetrepubliken. Es begann mit der Privatisierung der Staatsbetriebe im Schnelltempo.

Nach der gewonnen Wahl 1994 wurde die Privatisierung von Lukaschenko, selbst studierter Agrarwissenschaftler, gestoppt. Das verhinderte - anders als in Russland oder in der Ukraine - die Entstehung einer Oligarchie.

So gut wie alle wichtigen Betriebe sind bis heute noch in staatlicher Hand, was stark an die Sowjetunion erinnert, obwohl das Regime von Lukaschenko im Gegensatz zur UdSSR keine eindeutige Ideologie hat. Die staatliche Subventionierung führte dazu, dass in Belarus im Vergleich relativ hohe Löhne gezahlt werden. Zuletzt lag das Durchschnittsgehalt dort bei etwas weniger als 500 Euro.

Kaum Staatsbetriebe sind profitabel

Doch die veraltete belarussische Produktion wird nur in Russland gebraucht. Das verstärkt die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes, das zudem lange massiv als Verarbeiter und Exporteur des russischen Öls mitverdiente. So sind nur die wenigsten Staatsbetriebe in Belarus profitabel. Die Beziehungen zu Russland verschlechterten sich zuletzt als Lukaschenko sich weigerte, Weißrussland näher Richtung russischer Föderation zu rücken, etwa mit einer einheitlichen Währung.

Das führte zu einem erneuten Ölstreit zwischen Minsk und Moskau, was wiederum in einer Wirtschaftskrise resultierte, die auch durch die Corona-Pandemie noch dramatischer wird. Es ist nicht die erste Wirtschaftskrise unter Lukaschenko, doch zum ersten Mal steht er in der Sackgasse - und zwar, weil die gesellschaftliche Lage sich radikal verändert hat.

Trotz der oft hohen Wahlergebnisse lag die eigentliche Unterstützung für Lukaschenko bei rund 30 Prozent, laut den letzten unabhängigen Umfragen aus dem Jahr 2016. Etwa die Hälfte der Bevölkerung, die Lukaschenko oft mitwählte, weil sie mit der teils nationalistischen Opposition nichts anfangen konnte, bezeichnete sich zudem stets als apolitisch - auch weil die wählbaren Alternativen fehlten.

Genau darauf war Lukaschenkos Politik ausgerichtet: Durch den Stopp der Privatisierung konnten keine lokalen Eliten entstehen. Lukaschenko konnte die belarussische Elite ausschließlich um sich selbst herum aufbauen. Ministerpräsidenten, Betriebsdirektoren oder Bezirkschefs in der Provinz - die meisten Personalentscheidungen auf fast allen Ebenen trifft der Präsident selbst aufgrund seiner persönlichen Beziehungen.

Oppositionsführer schnell aus dem Rennen nehmen

Wer in diesem System gegen den Willen Lukaschenkos agiert, landet schnell im Knast. Gleichzeitig beschäftigt sich das Überwachungssystem des Inlandsgeheimdienstes KGB überwiegend damit, künftige Oppositionsführer schnell zu identifizieren und aus dem politischen Rennen zu nehmen.

"Das System der operativen Ermittlungsaktivitäten ermöglicht das rechtmäßige Abfangen aller elektronischen Nachrichten und den direkten Zugriff auf alle Internet- und Telefonkommunikationen sowie auf zugehörige Daten", heißt es in einem Bericht von Amnesty International. Er bezieht sich auf die Menschenrechte zwischen 2013 und 2018. Darüber hinaus warnen Menschenrechlter vor Massenabhörung in Hotels und Restaurants und einem größeren Informantennetzwerk.

Dadurch konnte auch die Entstehung einer ernstzunehmenden Opposition verhindert werden. Aber die Elite um Lukaschenko ist nicht so einheitlich wie er dies gerne hätte. Zwar bleiben die Sicherheitsbehörden dem ewigen Präsidenten treu. Der andere Teil jedoch, die sogenannten "Wirtschaftstechnokraten", setzen sich seit Längerem hinter den Kulissen für Reformen ein.

Eine Teilprivatisierung der Staatsbetriebe soll her, deren staatliche Subventionierung soll verkleinert werden, die kleinen und mittleren Unternehmen sollten zudem mehr Freiheiten bekommen. Die Abhängigkeit von Russland würde dadurch nicht verschwinden, doch die Wirtschaft würde gestärkt, zumal Belarus auch auf die starke IT-Branche verweisen kann.

Es ist daher kein Zufall, dass bei diesen Wahlen mit Wiktor Babariko, der 20 Jahre lang Chef einer wichtigen Bank war, und Walerij Zepkalo, dem Gründer eines IT-Parks in Minsk, zwei buchstäbliche Vertreter der Elite gegen Lukaschenko antraten. Babariko galt auch als sein wichtigster Herausforderer, bevor er wegen angeblicher Geldwäsche festgenommen wurde.

Die wichtigen Betriebe dürfen nicht stillstehen

Wenn nun nach der Präsidentschaftswahl an wichtigen Betrieben gestreikt wird, bekommt Lukaschenko wohl tatsächlich kalte Füße. Die Unternehmen machen die Hälfte des belarussischen BIP aus. Sollten sie in Zeiten der Wirtschaftskrise plötzlich stillstehen, hat der Präsident ein großes Problem.

Die apolitische Mehrheit der Belorussen, die erst mit Babariko und dann mit Swetlana Tichanowskaja endlich eine Alternative zu Lukaschenko bekam, ist schockiert von der beispiellosen Polizeigewalt. Sie mobilisiert sich in klugen Protesten, die nicht mal die Sondereinheit der belarussischen Polizei auflösen kann. Denn etwa gegen die aus Frauen bestehende Solidaritätsketten ist sie ziemlich machtlos.

Und so scheinen derzeit nur zwei Szenarien möglich: Entweder löst sich der Protest irgendwann von selbst auf. Oder er erreicht eine neue Stufe. Das könnte das Ende für Lukaschenkos Herrschaft bedeuten. Die Bedingungen dafür hat er selbst geschaffen.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen