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Riskanter Einmarsch in Russland Was genau plant die Ukraine in Kursk?

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Ein Grenzübergang an der Grenze zu Russland in der Region Sumy.

Ein Grenzübergang an der Grenze zu Russland in der Region Sumy.

(Foto: REUTERS)

Mutmaßlich Tausende ukrainische Soldaten halten sich seit fast drei Wochen in Russland auf. In der Region Kursk wurden die Kremltruppen am 6. August überrascht und befinden sich seitdem in der Defensive. Was hat die Ukraine vor? Warum ist die Kursk-Offensive so riskant?

Am 6. August überqueren ukrainische Soldaten Putins röteste aller Linien: Mit Panzern dringen sie in Russland ein, erobern und kontrollieren seit fast drei Wochen einen Teil der Region Kursk - etwa 1200 Quadratkilometer, etwas größer als Berlin. Zwei Wochen lang spekulieren Militärbeobachter über das Motiv der beeindruckenden, aber auch riskanten Offensive.

Am vergangenen Sonntag äußerte sich Wolodymyr Selenskyj erstmals zu den Hintergründen. Kiew wolle eine "Pufferzone" auf dem Gebiet des Gegners schaffen, sagte der ukrainische Präsident. Soll heißen: Die ukrainischen Truppen sind über die Grenze marschiert, um russische Angriffe aus dem Grenzgebiet heraus auf den Norden der Ukraine zu unterbinden und auf dem eigenen Staatsgebiet wieder in eine bessere Lage zu kommen.

Sicher ist schon jetzt: Der Überraschungsangriff - nach ukrainischen Angaben bis zu 35 Kilometer ins Landesinnere hinein - ist ein großer moralischer Erfolg für die Ukraine, ihre Truppen und die Bevölkerung. Die Offensive beeindruckt und beeinflusst zudem die Unterstützer im Westen. Der Vorstoß beweist, dass die Ukraine zweieinhalb Jahre nach Kriegsbeginn in der Lage ist, großangelegte Operationen mit kombinierten Waffen durchzuführen. Er verschafft ihr zudem militärische Luft. "Die Ukraine testet seit Beginn des Kriegs die Grenzen aus, die der Westen ihr setzt, und verschiebt diese. In Kursk hat sie das wieder getan", sagt Russland-Experte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im ntv-Interview. "Am Ende ist es immer darauf hinausgelaufen, dass die Amerikaner und die Deutschen der Ukraine doch mehr erlauben. Hätten sie das früher getan, wäre die Ukraine nicht in einer so prekären militärischen Situation."

Ukraine zerstört Brücken

Was 2023 im Sommer zu keinem Zeitpunkt möglich war, gelingt jetzt. Der kleine, aber wirkungsvolle Vorstoß auf russisches Staatsgebiet "spiegelt erhebliche operative Verbesserungen" bei den ukrainischen Streitkräften wider, analysiert das Center for European Policy Analysis (CEPA). Die Kursk-Offensive stehe in einem "krassen Gegensatz" zur verkorksten Sommeroffensive im Vorjahr.

Auffällig sei die bessere Koordination zwischen den verschiedenen Gruppen im Militär - die Zusammenarbeit von Artillerie, Panzerung, elektronischer Kriegsführung, Drohnenunterstützung und Eliteeinheiten wie der 80. Luftlandebrigade haben den Überraschungserfolg in der Region Kursk möglich gemacht.

Doch was kommt nach der Überraschung? "Die Ukraine versucht jetzt, diesen gewonnenen Raum zu halten", erklärt Oberst Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer bei ntv. "Das heißt, die Ukraine geht jetzt von der Offensive in die Defensive über, um sich Zeit zu verschaffen und auf mögliche russische Gegenangriffe reagieren zu können." Entlang des Flusses Sejm, der sich durch die Region Kursk zieht, hat die Ukraine damit begonnen, Brücken zu zerstören. "Dieser Fluss bietet sich als mögliche Verteidigungslinie gegenüber den russischen Angriffen an", analysiert Reisner.

Außerdem versucht die Ukraine ihre Nachschub- und Versorgungslinien offenzuhalten, um Munition, Gerät und weitere Soldaten nachzuschicken. Das aber wird schwierig für Kiews Truppen, weil die Russen ihre Luftüberlegenheit ausspielen können und die Ukrainer kaum schweres Pioniergerät zur Verfügung haben.

120.000 Russen evakuiert

Doch je länger sich die Ukrainer in Kursk aufhalten, desto problematischer könnte die Lage auch für Kremlchef Wladimir Putin werden. Denn die Ukraine trägt Tod und Zerstörung plötzlich nach Russland. Auch das gehört mutmaßlich zu den Zielen der Offensive: Putin kann den Krieg nicht länger vor seinem Volk verstecken.

Moskau musste wegen des ukrainischen Angriffs bereits etwa 120.000 Russen aus der Region Kursk evakuieren. Selbst junge Wehrpflichtige müssen plötzlich kämpfen. Bislang wollte Putin die Rekruten vom Kriegsgeschehen verschonen. "Das war das Versprechen, das der Kreml gegeben hat. Aber wir haben gleich am Anfang des Angriffs auf die Region Kursk gesehen, dass dort Wehrpflichtige an der Grenze stehen. Die wurden als Kriegsgefangene im ukrainischen Fernsehen und in den sozialen Medien gezeigt", berichtet ntv-Korrespondent Rainer Munz aus Russland.

"Russische Exilmedien vermelden, dass Wehrpflichtige unter Druck gesetzt werden, Verträge als Zeitsoldaten für ein Jahr zu unterschreiben. Nach vier Wochen Grundwehrdienst kann man einen Vertrag unterschreiben", führt Munz aus. Er geht dennoch nicht von einer flächendeckenden Rekrutierungswelle von Wehrpflichtigen aus, um keine Unruhe im Land heraufzubeschwören. "Das würde für Aufregung bei vielen Eltern hier in Russland sorgen."

Massenhafte Bombardierungen möglich

Noch gelingt es den Kremltruppen nicht, die Kontrolle über Kursk zurückzugewinnen. Berichten zufolge hat die Ukraine etwa 5000 bis 6000 Soldaten in die Region geschickt. Will Russland sie zurückerobern, müsste die Armee nach Einschätzung von Oberst Reisner etwa 20.000 bis 25.000 Soldaten für die Gegenoffensive bereitstellen. Das macht Moskau bislang nicht, sei aber für die nahe Zukunft ein realistisches Szenario - genauso, dass die Russen die Ukrainer über die bloße Masse an Bombardierungen zurückdrängen.

"Es kann sein, dass die Russen einfach auf die Zeitachse setzen und in den nächsten Wochen die Ukrainer derart bombardieren, dass sie wieder auf ihr Territorium gehen müssen", präsentiert Reisner das Worst-Case-Szenario aus Sicht Kiews. In dem Fall hätte die Ukraine "viele Reserven verbraucht, die sie im Donbass möglicherweise intelligenter hätte einsetzen können", führt Reisner aus. "Aber das bleibt momentan Spekulation. Da muss man einfach die nächsten Wochen abwarten."

"Nicht absehbar, dass Ukraine Gelände halten kann"

Dass die Schaffung einer Pufferzone das einzige Ziel der Ukraine ist, glauben Militärexperten aber nicht. Auch Reisner ist überzeugt: Die Ukraine sieht weitere Chancen in der Kursk-Offensive, etwa eine bessere Ausgangsposition für mögliche Waffenstillstandsverhandlungen irgendwann in der Zukunft.

Das bedeutet aber auch, dass die Ukraine das Gebiet auf Monate oder vielleicht sogar Jahre kontrollieren und verteidigen müsste. Logistisch wäre das eine Mammutaufgabe - und deshalb unwahrscheinlich. "Im Augenblick ist das ein Windei, weil es überhaupt nicht absehbar ist, dass die Ukraine diese Geländegewinne in Russland halten kann", sagt Militärexperte Ralph Thiele im ntv-Interview. "Sie haben alle überrascht, sind eingebrochen in Russland, können sich relativ frei bewegen. Aber das frei bewegen nimmt langsam auch ein Ende und sie graben sich jetzt ein."

"Momentum der Russen noch nicht gebrochen"

Auch wenn die Ukrainer mit der Kursk-Offensive die Russen überrumpelt haben, Erfolg und Misserfolg der Operation entscheiden sich erst in den nächsten Wochen. Dann wird sich zeigen, ob Kiew mit dem Marsch über die Grenze einen Teilabzug der russischen Soldaten von anderen kritischen Orten der Front im Donbass provozieren kann, der die Ukrainer an breiter Front profitieren lässt. Bislang haben die Offensiven der Russen im Osten der Ukraine nicht nachgelassen. Doch laut Beobachtung des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) hat die russische Militärführung zumindest aus dem südukrainischen Gebiet Saporischschja mittlerweile erste Truppenteile verlegt, um die Verteidigung von Kursk zu stärken.

"General Syrskyj, der ukrainische Oberkommandant, hat vor Kurzem gesagt, dass die Russen im Donbass jeden Tag im Durchschnitt 4,8 Kilometer vorrücken, während die Ukraine zeitgleich im Kursk-Raum jeden Tag 3,2 Kilometer vorgerückt ist. Daran sieht man, dass das Momentum der Russen noch nicht gebrochen ist", analysiert Reisner bei ntv das Dilemma. Nun müsse die Ukraine abwarten, ob Russland in den nächsten Tagen und Wochen doch noch signifikant Kräfte verlagern muss. "Wenn das nicht der Fall ist und Russland aus dem Pool seiner strategischen Reserven in der Lage ist, Kursk zu beherrschen, dann ist die Offensive bei Weitem nicht so erfolgreich, wie das die Ukraine intendiert hat."

Dass aus dem moralischen Achtungserfolg für die Ukrainer auch ein strategisch-taktischer wird, ist lange nicht sicher. Die Kursk-Offensive bleibt eindrucksvoll, aber riskant. Immerhin hat Kiew den westlichen Verbündeten bewiesen, dass es sich lohnt, die ukrainische Armee weiter zu unterstützen.

"Wieder was gelernt"-Podcast

Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?

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Quelle: ntv.de

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