Politik

Reisners Blick auf die Front "Was wir jetzt sehen, ist eine Kettenreaktion"

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Russische Artillerie feuert auf ukrainische Gefechtsstände im Donbass.

Russische Artillerie feuert auf ukrainische Gefechtsstände im Donbass.

(Foto: IMAGO/SNA)

Der ukrainische Generalstab meldet für die russische Seite so hohe Verlustzahlen wie nie zuvor in diesem Krieg. Was bedeutet das für das Schlachtfeld? Oberst Reisner erklärt ntv.de, warum er den Ukrainern noch einen Überraschungsangriff zutraut.

ntv.de: Wie hat sich die Lage in der vergangenen Woche für die Ukraine entwickelt?

Markus Reisner: Wir sehen, dass Russland massiv den Druck aufrechterhält. Vor allem im Zentrum des Donbass greifen die russischen Truppen mit aller Kraft an, schwer gekämpft wird südlich von Pokrowsk. Hier ist der Kessel von Kurachowe bereits zur Hälfte eingedrückt, die Stadt ist bis zum Zentrum in russischem Besitz. Die letzten Aufnahmen zeigten die Eroberung einer Schule, der Schule Nummer 5, und die liegt direkt im Stadtzentrum. Im Süden sind die Russen zudem dabei, die Stadt bereits zu umgehen. Sie üben hier einen enormen Druck aus, und einer der Flankenstöße zielt auf eine wichtige Versorgungsroute in die Stadt selbst ab.

Der Vorstoß der russischen Truppen auf die Stadt Kurachowe

Der Vorstoß der russischen Truppen auf die Stadt Kurachowe

(Foto: ntv.de | Satellitenfotos © Copernicus Sentinel Data 2024)

Ist das so gefährlich für die Ukrainer, wie es klingt?

Ja, wenn die Nachschubroute unterbrochen ist, dann können die Ukrainer ihre Truppen dort nicht mehr mit Munition, Waffen und Ausrüstung versorgen und auch keine Soldaten mehr rein- oder herausrotieren. Damit könnten die Russen ein weiteres Stück Gelände in ihren Besitz bringen, weil es nicht gelingt, die Versorgung aufrechtzuerhalten.

Wie ordnen Sie diese Kämpfe in die Gesamtlage ein?

Für den Betrachter macht es den Eindruck, als würden nur kleine Gebiete den Besitzer wechseln. Aber das Problem ist: Wenn die starke vorderste Verteidigungslinie einmal nachgibt, dann beginnt die Tiefe dahinter langsam zu zerbröseln.

Können wir das einmal im Detail betrachten?

Wenn Sie sich die Front in ihrer ganzen Länge anschauen, dann verläuft ein Teil von Norden nach Süden und ein Teil von Westen nach Osten. Beide Linien kommen an einem Schnittpunkt zusammen, und dieser Ort lag im vergangenen Jahr über Monate im Brennpunkt der Gefechte: Wuhledar. Diesen Ort, diesen Schnittpunkt haben die Ukrainer lange vehement verteidigt, um die Front an dieser entscheidenden Stelle stabil zu halten. Aber vor einigen Wochen haben die Russen Wuhledar erobert. Das Problem ist: Wenn es dem Gegner gelingt, an einer oder zwei so entscheidenden Stellen in die Verteidigungslinie einzubrechen, dann kommt es meist zu einer Kettenreaktion.

Und diese Kettenreaktion sehen wir jetzt?

Markus Reisner ist Oberst im Österreichischen Bundesheer und ein renommierter Experte für den Ukrainekrieg. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Front.

Markus Reisner ist Oberst im Österreichischen Bundesheer und ein renommierter Experte für den Ukrainekrieg. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Front.

(Foto: privat)

Ja, Wuhledar war ein Ausgangspunkt, der andere war Otscheretyne ostwärts von Pokrowsk. Dort ist es den Russen gelungen, bei einem Wechsel zwischen zwei ukrainischen Brigaden - die eine ging und die andere kam - genau in diesem Moment an dieser Nahtstelle anzugreifen. Die beiden Erfolge, in Wuhledar und in Otscheretyne, haben den Durchbruch ermöglicht, den wir jetzt sehen, Richtung der auch logistisch wichtigen Stadt Pokrowsk. Stück für Stück schaffen es die Russen, die ukrainischen Truppen mit Umfassungen im Rücken zu umgehen und jedes Mal Gelände in Besitz zu nehmen. Denn die ukrainischen Kämpfer müssen zurückweichen, wollen sie nicht eingekesselt werden. Südlich von Pokrowsk kündigt sich immer deutlicher ein großer Kessel an.

Zugleich sind die Verlustzahlen, die der ukrainische Generalstab für die russische Seite ausweist, derzeit so hoch wie nie zuvor in diesem Krieg. Sie lagen zuletzt bei fast 2.000 Gefallenen oder Verletzten. Das wird überzogen sein, aber nicht völlig absurd. Was schließen Sie daraus?

Auch das zeigt, wie hoch der Druck gerade ist und mit welcher Vehemenz die Russen gegen die ukrainischen Stellungen anlaufen. Auf taktischer Ebene sehen wir, dass die Russen in Bataillonsstärke angreifen, also mit 300 bis 400 Mann. Die Munitionsversorgung ist offensichtlich konsolidiert, es werden Artillerie, aber auch Raketenwerfer eingesetzt. Die Russen setzen alles noch einmal auf eine Karte, um in eine günstige Position mit Blick auf den Januar zu erreichen, wenn die zweite Amtszeit des US-Präsidenten Donald Trump beginnt.

Wie weit ist die ukrainische Rasputiza, also die Regenphase mit viel Schlamm im Donbass?

Sie geht erkennbar zuende und der Boden gefriert. Das begünstigt den Einsatz von Panzern. Aber zugleich greifen unverändert vielfach russische Soldaten auf Motorrädern oder zu Fuß an.

Die rennen ins offene Messer, oder?

Ein ukrainischer Soldat hat vor kurzem einen sehr treffenden Vergleich gezogen: Die Russen sind wie Geister - sie tauchen überall auf und versuchen, jede Lücke zu erkennen. Wenn einige durchgesickert sind, stoßen größere Verbände nach. Ukrainische Soldaten berichten immer wieder, dass plötzlich hinter ihrem Rücken kleine Gruppen von Russen auftauchen. Das Dilemma ist, die Russen können all diese kleinen Lücken in der ukrainischen Abwehr nutzen, die sich einfach ergeben, wenn ein Verband so ausgedünnt ist, wie es die ukrainischen Verbände zum Teil sind.

Bis zu welchem Grad?

Oft sind nur noch 30 bis 40 Prozent der Soldaten in einem Verband vorhanden. Das ist ein prekärer Zustand. Die ukrainische Armee sucht händeringend nach Rekruten, um die Verbände an der Front zu füllen. Parallel dazu registrieren wir auf strategischer Ebene täglich schwere Luftangriffe mit jeweils 100 bis 150 Drohnen.

An dieser Situation kann die ukrainische Armee so schnell nichts ändern, es fehlt an Menschen, Gerät und Munition. Aber gibt es auf der strategischen Ebene Handlungsoptionen?

Ich persönlich denke, dass wir durchaus noch die eine oder andere Überraschung erleben werden. Meiner Einschätzung nach werden die Ukrainer noch versuchen, an unerwarteter Stelle anzugreifen. Das kann zum Beispiel im Nordosten der Ukraine sein, ein weiterer Vorstoß auf russisches Territorium. Das könnte im Süden bei Saporischschja sein, ein Vorstoß in Richtung des Atomkraftwerks. Im Nordosten der Ukraine beginnen die Russen bereits Brücken zu zerstören. Das könnte ein Indikator dafür sein, dass man die Logistik der Ukraine durcheinanderbringen will, weil sie eine Offensive vorbereitet.

Gibt es konkrete Hinweise darauf?

Konkrete noch nicht. Aber wir sollten nicht vergessen, was der ukrainische Generalstabschef Syrksyj gesagt hat: "Die beste Art, sich zu verteidigen, ist der Angriff." Es kann durchaus sein, dass wir mit Blick darauf etwas sehen werden.

Eine Gegenoffensive, aus der Not geboren?

Richtig. Eine Offensive, um irgendetwas zu tun, was die russischen Kräfte bindet. Und mit Blick darauf ist die geopolitische Situation derzeit bemerkenswert: In Syrien hat es einen Rebellenvorstoß gegeben, der natürlich die Interessen des Kremls gefährdet. Russland unterhält in Syrien zwei Militärbasen - eine Luftwaffenbasis und eine Marinebasis, die einzigen im Nahen Osten. Zudem unterstützt Moskau das Assad-Regime. Das ist der eine Brandherd. Der andere ist Georgien. Dort werden die Proteste der Bevölkerung gegen die prorussische Regierung immer gewaltsamer. Beide Schauplätze - Syrien und Georgien - bringen den Kreml unter Druck. Er muss jetzt überlegen, wo er seine Ressourcen einsetzt: Stützt er Assad in Damaskus? Interveniert Russland in Georgien? Dann käme es automatisch zu verringerten Ressourcen für das Schlachtfeld in der Ukraine.

Russlands Ressourcen zu verringern - das war ja eigentlich das Ziel der Offensive im Raum Kursk. Wie ist die Lage dort?

Uns sind von dort drei Angriffe mit weitreichenden Waffensystemen bekannt - gegen ein Munitionslager, ein russisches Hauptquartier und einen Flugplatz. Das war es schon. Der Druck auf die Russen wird also erhöht, aber nicht massiv genug, um die ihre Truppen zu schwächen. Zugleich arbeiten sich die Russen dort Schritt für Schritt weiter vor. Der Raum selbst hat keine militärische Bedeutung, das sind unbedeutende Dörfer und Felder. Aber die Symbolkraft, russisches Territorium in Besitz zu haben, die schwingt natürlich mit. Wenn der Druck aber nicht mehr zunimmt, dann werden die Ukrainer dieses Ziel nicht erreichen.

Das würde heißen, bis Januar, wenn Donald Trump im Weißen Haus die Amtsgeschäfte übernimmt und womöglich beide Gegner in Verhandlungen zwingt, ließe sich das Faustpfand Kursk nicht halten?

Wenn es zu keinen weiteren Entlastungsangriffen mit weitreichenden Waffensystemen kommt, dann wird die Ukraine das Kursker Territorium Stück für Stück wieder verlieren. Drei solcher Angriffe, wie wir sie jetzt gesehen haben, die bringen Russland nicht unter Druck. So etwas beantwortet Moskau mit einer Mittelstreckenrakete, die man jüngst abgefeuert hat. Das überschreitet keine Linien, sondern bleibt alles im Rahmen, wie bei einem Schachspiel: Auf den einen Zug folgt ein anderer Zug. Aber das waren Bauern und maximal Springer, die zum Einsatz kamen. Nicht die Dame, die ein Schachmatt bewirken könnte.

Was erwarten Sie für die kommenden Tage?

Interessant sind die letzten Entwicklungen. So hat Präsident Wolodymyr Selenskyj heute eingestanden, dass die ukrainischen Streitkräfte derzeit nicht in der Lage sind, die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen. Er fordert aber eine Einladung in die NATO. Der ehemalige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg lässt gleichzeitig mit der Aussage aufhorchen, dass die Ukraine Gebiete temporär aufgeben muss. Dies klingt bereits sehr nach dem Plan von Trumps US-Sondergesandtem für die Ukraine, Keith Kellogg. Möglicherweise ist ein Waffenstillstand so nahe wie schon lange nicht mehr.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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