Ukraine-Krieg bei "Anne Will" "... dann werden wir mit Schaufeln kämpfen"
20.06.2022, 06:06 Uhr
Die Gäste von Anne Will diskutierten auch über einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine.
(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)
Die Ukraine strebt in die EU und kann sich dabei der Unterstützung Deutschlands sicher sein. Allerdings müssen auch die anderen 26 EU-Staaten dem Beitrittskandidatenstatus zustimmen. Ein Musterland sei die Ukraine noch lange nicht, warnen einige Gäste bei "Anne Will".
Die EU-Kommission hat am Freitag empfohlen, die Ukraine und die Republik Moldau zu EU-Beitrittskandidaten zu ernennen. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder wollen bereits am Donnerstag darüber entscheiden. Das Votum muss einstimmig ausfallen. Die Fortschritte im Beitrittsprozess sollen aber an konkrete Bedingungen geknüpft sein. So hat die Ukraine zum Beispiel noch enorme Defizite, was die Bekämpfung von Korruption betrifft. Laut dem letzten Korruptionsindex der unabhängigen Gesellschaft Transparency International liegt das Land in diesem Bereich aktuell auf Platz 122. Im Vergleich zum Jahr davor ist das sogar eine leichte Verschlechterung. Das letzte EU-Land ist in dieser Liste aktuell Bulgarien auf Platz 78, Deutschland liegt auf Rang zehn. Am Sonntagabend haben die Gäste bei "Anne Will" in der ARD unter anderem über dieses Thema diskutiert. Mit dem Schritt der EU-Kommission sind im Prinzip alle einverstanden.
"Unsere Entscheidung ist gefallen aufgrund der Daten, Fakten und Zustände in der Ukraine", begründet EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu Beginn der Sendung in einem vorab aufgezeichneten Interview die Entscheidung. "Die Ukraine hat enorme Fortschritte gemacht", so die Politikerin mit Blick auf die Entwicklung des Landes in den letzten acht Jahren. "Die Ukraine will in die EU."
Für von der Leyen gibt es neben dem strategischen Interesse der europäischen Staaten noch einen zweiten Grund: die moralische Verpflichtung der Europäischen Union, die Ukraine zu unterstützen. Ausschlaggebend seien jedoch die wirtschaftlichen Voraussetzungen des Landes. "Die Ukraine ist eine robuste parlamentarische Demokratie und hat eine sehr lebhafte Zivilgesellschaft", sagte die EU-Kommissionspräsidentin.
"Ukraine Teil des Integrationsprojekts EU"
Klar sei, dass die Ukraine noch viele Vorleistungen zu erbringen habe. Aber was zum Beispiel den Kampf gegen Korruption angehe, weise die Entwicklung in eine "positive Richtung". Von der Leyen: "Die Ukraine gewinnt an Stabilität und an der Kraft, sich gegen die Korruption zu stemmen." Das Land sei vor allem gut im Bereich Digitalisierung. "Davon kann sich manches Land eine Scheibe abschneiden", sagte die Politikerin mit einem Lächeln im Gesicht. Das sei das beste Mittel im Kampf gegen die Korruption, denn so müssten immer weniger Geschäfte "von Mensch zu Mensch" abgeschlossen werden.
Sie gehe fest davon aus, dass der EU-Rat, also die Staats- und Regierungschefs, am Donnerstag eine positive Entscheidung treffen werden, so von der Leyen. Allerdings sei klar, dass auch die EU sich reformieren müsse. "Wir müssen die Fragen beantworten, wie wir mit einer größeren EU oder mit dem Einstimmigkeitsprinzip umgehen", sagte von der Leyen.
Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba ist zuversichtlich, dass der EU-Rat dem Kandidatenstatus der Ukraine zustimmt. "Wenn nicht, wäre das ein historischer Fehler der EU-Führungspolitiker", sagte er. "Der Ukraine den Beitrittsstatus zu gewähren ist ein Zeichen dafür, dass unser Land ein Teil des Integrationsprojekts der EU ist, dass die Ukraine eine von uns ist. Wir wissen: Es braucht Zeit, EU-Mitglied zu werden. Aber der Beitrittsstatus bedeutet, dass die EU eine klare Vision für die europäische Entwicklung hat."
"Schnell ist für mich vom Tisch"
Die Ukraine habe eine starke Affinität in Richtung EU, sagte auch Journalist Christoph Schwennicke. "Aber das macht die Ukraine noch nicht zu einem Musterland. Ich bin skeptisch, aber die Skepsis bezieht sich allein auf das, was noch kommt." Der französische Präsident Macron habe am Donnerstag in Kiew von einem Zehn-Jahres-Zeitraum gesprochen, was die EU-Mitgliedschaft der Ukraine angehe. "Das finde ich ehrlich."
Sicherheitsexpertin Claudia Major glaubt ebenfalls nicht an eine schnelle EU-Mitgliedschaft. "Es wird einen regelkonformen Prozess geben, der auch ergebnisoffen ist", sagte die Expertin bei "Anne Will". Und es gehe nicht nur um die EU-Mitgliedschaft neuer Länder, sagte Major. "Es gab ein klares Bekenntnis, dass die EU das nur kann, wenn sie sich intern reformiert." "Es geht mir nicht um Zeit", machte Kuleba klar. Es gehe auch darum, den Skeptizismus einiger europäischer Länder zu beseitigen, die noch nicht glaubten, dass die Ukraine zu Europa gehöre.
Noch wichtiger als der EU-Beitritt ist es für die Ukraine allerdings, den Krieg erfolgreich zu beenden. Dazu braucht das Land weitere schwere Waffen. Und hier macht Kuleba klar: "Wir wissen, dass Deutschland mehr tun kann, und wir hoffen, dass Deutschland mehr tun wird. Wenn irgendjemand im Westen denkt, nicht sofort Waffen zu liefern bedeutet, dass die Ukraine nicht mehr kämpft und Russland Zugeständnisse macht, dann sage ich Ihnen: Das wird nicht passieren. Wenn wir keine Waffen haben, dann werden wir mit Schaufeln kämpfen. Aber wir werden uns verteidigen."
"Das ist ein großer Schritt"
Dass Bundeskanzler Scholz sich für den EU-Beitritt der Ukraine ausgesprochen habe, sei ein großer Schritt, sagte CDU-Verteidigungsexperte Johan Wadephul. Allerdings beklagte er auch, dass Deutschland bisher die Versprechen nach Waffenlieferungen noch nicht gehalten habe. Deswegen will die Unionsfraktion im Bundestag mit einem Antrag die Bundesregierung zu schnelleren Lieferungen zwingen. Dabei geht es besonders um Schützenpanzer, obwohl die in der Ukraine im Moment nicht gebraucht werden.
Hier machte aber Claudia Major einen klaren Punkt: Die Panzer würden dann benötigt, wenn der Stellungskrieg im Osten der Ukraine beendet sei. "Wir müssen sagen, was die Ukraine jetzt braucht, in vier Wochen und in einem halben Jahr. Und das tun wir im Moment zu wenig."
Quelle: ntv.de