Politik

Der verlorene Beitrittskandidat Die Georgier wollen in die EU, ihre Regierung nicht

Umfragen zufolge unterstützen 83 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Georgiens die EU-Integration ihres Landes.

Umfragen zufolge unterstützen 83 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Georgiens die EU-Integration ihres Landes.

(Foto: imago images/ZUMA Wire)

Die Ukraine und Moldau sollen EU-Beitrittskandidaten werden. Eigentlich war das auch der Wunsch Georgiens. Doch inzwischen ist das Streben der Regierung in Tbilissi nach Westen eingeschlafen, obwohl die Bevölkerung mehrheitlich dafür ist. Was ist da los?

Die Georgische Heerstraße in Richtung Kazbegi ist eigentlich zweispurig. Doch die meiste Zeit ist nur eine Spur frei. Auf der anderen parken unzählige Lkw. Stoßstange an Stoßstange. Daneben stehen Männer, die sich unterhalten, Zigaretten rauchen, auf Gaskochern Essen zubereiten. Einige dösen hinter ihrem Lenkrad.

Der normale Autoverkehr rauscht an ihnen vorbei, eingeengt, aber dennoch so, als ob nichts wäre. Zur Not reicht eine Spur eben auch für zwei Autos. Lediglich ein riskantes Überholmanöver oder die ein oder andere Kuh sorgen dafür, dass die Autos abbremsen. Die Laster-Fahrer stehen an. Sie sind auf dem Weg nach Norden, nach Russland. Doch weil die Kontrollen an der Grenze langwierig sind, verweilen sie hier Stunden, wenn nicht Tage.

Georgien, dieses schöne Land mit den grünen Wiesen, den weißen Gipfeln des Kaukasus, den Schwarzmeer-Stränden, dem hervorragenden Wein und den freundlichen Menschen, ist eng mit seinem Nachbarn Russland verbunden. Nicht nur historisch und über vielfältige private Kontakte, sondern eben auch wirtschaftlich. Der Anteil des russischen Marktes am georgischen Weinexport im Jahr 2021 lag beispielsweise bei 54,8 Prozent, wie die Heinrich-Böll-Stiftung in einer Analyse auflistet.

Die georgischen Gesamtexporte nach Russland stiegen in den vergangenen Jahren deutlich: von 47 Millionen US-Dollar im Jahr 2012 auf 610 Millionen 2021. Das entspricht 14,4 Prozent der Gesamtexporte. Hinzu kommt eine gewisse Abhängigkeit von russischem Erdgas (23,1 Prozent im Jahr 2021) und Weizen (94 Prozent des Mehls stammen aus Russland). Zum Vergleich: Laut vorläufigen Zahlen gingen im vergangenen Jahr 16,8 Prozent der georgischen Exporte in die Europäische Union. "Insgesamt ist Russland seit 2012 als wichtiger Handelspartner für Georgien zurückgekehrt", bilanziert die Grünen-nahe Stiftung.

Große Solidarität mit der Ukraine

Dieses "zurückgekehrt" beschreibt ganz gut, warum das mit Russland und Georgien nicht immer eine segensreiche Verbindung ist. Und warum das Land, das oft als "Balkon Europas" bezeichnet wird, eher Richtung Westen strebt, wenn auch nur mit angezogener Handbremse. Denn Russland ist kein einfacher Nachbar. Russland greift gerne mal seine Nachbarstaaten an.

Die Georgierinnen und Georgier wissen das. 2008 befanden sich russische Panzer in ihrem Land. Es war ein kurzer, heftiger Krieg. Seitdem sind die Gebiete Abchasien und Südossetien, die schon seit vielen Jahren Abspaltungstendenzen zeigten, von Russland als unabhängige Staaten anerkannt. Von Georgien aus wirkt Russlands Krieg gegen die Ukraine 14 Jahre später daher noch bedrohlicher.

Umso größer ist die Solidarität mit der Ukraine. Blau-gelbe Fahnen hängen in Cafés der Hauptstadt, wehen an öffentlichen Gebäuden, sind ans Revers von Passanten gesteckt. "Dass eine breite Bevölkerungen die Ukraine unterstützt, ist auch verständlich, weil sich die Situation in der Ukraine und Georgien ähnelt", sagt der Politikwissenschaftler Mikheil Sarjveladze im Gespräch mit ntv.de. Das, was die Ukraine gerade durchmache, habe Georgien eben schon 2008 erlebt. "Dieser geteilte Schmerz führt zu einer historisch geprägten gesellschaftlichen Solidarität."

Die EUMM observiert die Situation an den Administrative Boundary Lines von Abchasien und Südossetien.

Die EUMM observiert die Situation an den Administrative Boundary Lines von Abchasien und Südossetien.

(Foto: IMAGO/Ritzau Scanpix)

Und die Erinnerungen an 2008 seien immer noch sehr präsent, sagt der Georgier. "Menschen, die in der Nähe der Besatzungslinie zu Südossetien und Abchasien leben, spüren täglich die Gefahr. Dort werden zum Teil Zivilisten entführt und ihnen Gewalt angetan. Die de-facto-Grenzlinien werden von russischer Seite verschoben und willkürlich durchgesetzt."

Derzeit sind Tausende russische Soldaten in Abchasien und Südossetien stationiert. Die Gebiete werden vom Rest des Landes abgeschottet. Immer wieder kommt es zu Verschiebungen der Abgrenzungen, die von internationalen Organisationen Administrative Boundary Lines (ABL) genannt werden. Seit Oktober 2008 unterhält die Europäische Union eine Beobachtermission, kurz EUMM. Mehr als 200 Menschen aus 26 Mitgliedstaaten sind dort beschäftigt, um die faktischen Grenzlinien abzufahren, mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen, zu vermitteln und eine Eskalation des Konflikts zu vermeiden.

Südossetien und Abchasien als Druckmittel Russlands

Zurzeit sei die Sicherheitslage relativ stabil, erklärt EUMM-Pressesprecher Klaas Maes ntv.de. "Wir sollten das jedoch nicht als selbstverständlich ansehen, da es immer ein gewisses Potenzial für negative Entwicklungen gibt." Die Beobachter der Mission berichteten regelmäßig über "Grenzziehungen", die sich negativ auf die Anwohnerinnen und Anwohner auswirkten. Sie könnten zum Teil nicht mehr zu ihrem Arzt fahren, Friedhöfe besuchen oder ihr Land bewirtschaften. "Dieser anhaltende Prozess hat zu fast undurchdringlichen physischen Barrieren geführt, die Menschen daran hindern, die ABL zu überqueren."

Wie Maes berichtet, würden häufig Menschen festgenommen, die versuchen, die ABL zu passieren. Die EUMM setze sich dann zusammen mit anderen Organisationen dafür ein, dass die Inhaftierten schnell wieder freigelassen werden, "da die humanitäre Lage für sie und ihre Familien dramatisch ist. Leider ist dies in der Regel ein komplizierter Prozess."

Dass sich an dieser Situation bald etwas grundlegend ändert, ist unwahrscheinlich: "Gegenwärtig liegt es nicht im Interesse Russlands, Abchasien und Südossetien endgültig in die Russische Föderation einzugliedern", sagt Mikheil Sarjveladze. "Die Gebiete sind ohnehin de facto von Russland annektiert." Pro forma werde ihre Unabhängigkeit gewährleistet und finanziert. "Das bedeutet zwar ein wirtschaftliches Verlustgeschäft, aber Russland kann die Gebiete instrumentalisieren, um einen Konflikt zu provozieren."

Für Moskau gehe es darum, den europäischen Kontinent in Einflusszonen aufzuteilen und eine von Russland dominierte Pufferzone aus Staaten wie der Ukraine, Belarus, Moldau und Georgien zu schaffen, führt der Experte aus. Regionen wie Südossetien und Abchasien dienten schließlich als Druckmittel, um die EU- und NATO-Integration Georgiens zu verhindern.

Und in der Tat kann von einer staatlich getragenen Bewegung nach Europa derzeit nicht die Rede sein. Trotz der Scharmützel und Widrigkeiten für die Bevölkerung nahe den abtrünnigen Regionen hält die georgische Regierungspartei, Georgischer Traum (GT), an den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland fest. Den Sanktionen des Westens infolge des Angriffskriegs auf die Ukraine hat sich Tbilissi nicht angeschlossen. Als Reaktion darauf rief Kiew seinen Botschafter ab.

Die Regierung begründet ihre Zurückhaltung damit, auf diese Weise einen Krieg in Georgien zu vermeiden. "Dabei hat die Regierung gar keinen Einfluss auf Russland. Der Kreml in Moskau entscheidet, wann er in den Krieg ziehen will", sagt Politikwissenschaftler Sarjveladze. "Und die Argumentation, dass ein Anschluss an die westlichen Sanktionen gegen Russland Georgien in wirtschaftlicher Hinsicht immensen Schaden zufügen würde, halte ich für unmoralisch."

Für Georgien gibt es nur die "europäische Perspektive"

Geht man die Prachtstraße Rustaveli Avenue im Herzen Tbilissis entlang, wird der Eindruck erweckt, Georgien sei schon längst Teil der EU. An offiziellen Gebäuden wie dem Parlament hängen ganz selbstverständlich EU-Flaggen. Dass die georgische Regierung zusammen mit der Ukraine und Moldau kurz nach Beginn der russischen Invasion Ende Februar einen offiziellen EU-Beitrittsantrag stellte, schien da nur eine Formalie, zumal Umfragen zeigen, dass mehr als 80 Prozent der Bevölkerung dafür sind.

Doch seit diesem Freitag steht fest: Lediglich die Ukraine und Moldau dürfen sich Hoffnung machen, tatsächlich in nächster Zeit einen offiziellen Kandidatenstatus zu erhalten. Für Georgien bleibt nur eine "europäische Perspektive", wie es Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen formulierte. Die Entscheidung über den Kandidatenstatus wird vertagt.

Was angesichts der Beflaggung in Tbilissi und der hohen Zustimmungswerte für eine EU-Integration überraschend erscheinen mag, kam für Expertinnen und Experten nicht aus heiterem Himmel. "Angesichts der demokratischen Rückschritte in Georgien und des zunehmend zerrütteten Verhältnisses zwischen der EU und der georgischen Regierung war abzusehen, dass die Kommission Georgien kritischer behandeln wird als die Ukraine und Moldau", schreibt die Leiterin des Regionalbüros Südkaukasus der Heinrich-Böll-Stiftung in Tbilissi, Sonja Katharina Schiffers, in einer Mail an ntv.de.

Zu den Punkten, die die EU in dem Land verbessert wissen will, zählen unter anderen: ein Ende der politischen Polarisierung, eine Justizreform, Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung, ein verstärkter Kampf gegen die organisierte Kriminalität, die Gewährleistung einer freien, pluralistischen Medienlandschaft, der Schutz von Minderheiten und die Beseitigung des übermäßigen Einflusses von Interessen einzelner Personen - damit ist die sogenannte De-Oligarchisierung gemeint, die Befreiung vom korruptionsanfälligen Oligarchensystem.

"Die Stellungnahme der Kommission macht sehr deutlich, was die georgische Regierung tun sollte, damit das Land den Kandidatenstatus doch noch, und möglicherweise sogar zeitnah, bekommt", so Schiffers. "Bei Anforderungen wie der produktiven Zusammenarbeit mit der Opposition, besserem Schutz von Minderheiten sowie Medienfreiheit ließen sich bereits innerhalb weniger Tage positive Zeichen setzen." Es stelle sich die Frage, ob die Regierung hierzu wirklich bereit sei. "Ob die Regierung die Empfehlungen umsetzt und so auf den Kandidatenstatus hinarbeitet, wird vor allem davon abhängen, wie viel Druck aus der Bevölkerung kommt."

"Eine unabhängige Justiz liegt nicht im Interesse der Regierung"

Bidsina Iwanischwili, der reichste Mann Georgiens.

Bidsina Iwanischwili, der reichste Mann Georgiens.

(Foto: imago images/ITAR-TASS)

Dass der Druck steigen wird, dessen ist sich Mikhail Sarjveladze sicher. Aber zu was das am Ende führt, das wisse er nicht. "Bei der aktuellen Regierung halte ich es für unrealistisch, dass sie demnächst effektiv auf die Forderungen eingehen und die Probleme lösen wird." Der GT klammere sich an die Macht und verfolge eigene Interessen, vor allem die des Gründers Bidsina Iwanischwili. Der Oligarch ist der reichste Mann Georgiens. Sein persönliches Vermögen belief sich zuletzt nach Angaben der Böll-Stiftung auf 30 Prozent des georgischen BIP.

"Iwanischwili hat sein Geld vor allem in Russland verdient, und obwohl er offiziell nicht mehr in Russland aktiv ist, sind die passive Haltung Georgiens gegenüber der Ukraine und sein Konfrontationskurs gegenüber seinen westlichen Partnern auf ihn zurückzuführen", sagt Sarjveladze. "Eine unabhängige Justiz, die eine Voraussetzung für den Kandidatenstatus wäre, liegt nicht im Interesse der derzeitigen Regierung und nicht im Interesse des Oligarchen." Es gebe derzeit keine Gewaltenteilung, sondern die Justiz - bestehend aus einem Richter-Clan - diene der Exekutive und damit der regierenden Partei.

Er sei überhaupt nicht überrascht, dass die EU-Kommission so entschieden habe. Aber: "Ich als georgischer Staatsbürger bin traurig und enttäuscht." Für die europäische Zukunft seines Landes sehe er unter dieser Regierung allerdings schwarz. Und abgesehen von dem Wunsch nach der europäischen Integration gibt es da noch die real existierenden Bedrohungen.

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Sarjveladze nennt die Gefahr, dass Russland Georgien in Zukunft erneut eingreift, realistisch. Deswegen ist für den Politikwissenschaftler klar: "Ohne feste Sicherheitsgarantien durch eine NATO-Mitgliedschaft oder durch eine Gruppe westlicher Staaten, die Georgien im Falle eines Angriffs zur Seite stehen, ist eine West-Integration und damit eine weitergehende Demokratisierung nicht möglich."

All diese Überlegungen scheinen, einmal in Kazbegi angekommen, weit weg. Von der berühmten Dreifaltigkeitskirche fällt der Blick auf den Kaukasus. Dahinter liegt Russland. Bis zur Grenze sind es nur zwölf Kilometer. Brüssel und Europa sind beim Anblick der weißen Berggipfel nebensächlich - zumindest für Touristen. Viele Bürgerinnen und Bürger Georgiens aber hegen den Wunsch, auch endlich formal ein Teil der europäischen Wertegemeinschaft zu werden. Die Frage ist, wie lange sie noch darauf warten müssen.

Quelle: ntv.de

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