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Stimmungslage: "Mütend" Viel mehr als ein Albtraum

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"Deutschland stottert, der Staat muss endlich in die Werkstatt."

(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)

Was Corona an Schwächen und Lebenslügen bloßgestellt hat, wird Deutschland so lange beschäftigen wie die Agenda 2010. Es braucht Reformen, die das Land in seinen Strukturen verändern, vielleicht sogar in seiner Geisteshaltung.

Dieser Tage nannte jemand die Stimmung im Land "mütend", eine Mischung aus müde und wütend. Das trifft es. Dabei scheint es nicht allein um den erbittert geführten Streit zu gehen, ob ein neuerlicher Lockdown unausweichlich oder testweise Lockerungen klug seien. Zusehends wird diese Auseinandersetzung grundiert durch ein Gefühl, das auch Lockdown-Befürworter beschleicht: Nach einem Jahr Corona und Lockdown stecken wir in einer Sackgasse, in die uns ein Mangel an Handlungsalternativen manövriert hat.

Je länger das Land in dieser Sackgasse steckt, umso stärker wird die dunkle Vorahnung, dass nach Corona das alte Leben doch nicht so einfach wieder zurückkommt. Das aber war die Hoffnung bis Weihnachten und zu Anfang des Jahres. Sie trug einen großen Teil der Gesellschaft über die monatelangen Durststrecken von Homeschooling, Kontakteinschränkungen und Freiheitsverlust. Die Rückkehr zum normalen, alten Leben war das von der Kanzlerin (wie oft eigentlich?) beschworene "Licht am Ende des Tunnels": Spätestens mit dem Frühling werde Corona den Alltag im Land nicht länger beherrschen und seinen tödlichen Schrecken verlieren. Letzteres wird gewiss eintreten, auch die Impfschnecke Deutschland kommt irgendwann ins Ziel.

Früher Südeuropa - jetzt Deutschland

Trotzdem wird Corona nicht enden wie ein Albtraum, aus dem das Land erwacht, sich schüttelt und dann weitermacht wie gehabt. Wenn die Pandemie erst einmal ausgeimpft ist, wird in Gänze sichtbar werden, was in vielen verstörenden Details schon heute zu erahnen ist: Deutschland stottert, der Staat muss endlich in die Werkstatt. Das Wort Reform wird spätestens im Bundestagswahlkampf in aller Munde sein. Leider klingt das Wort in deutschen Ohren fast nie nach Aufbruch und Verheißung, sondern nach Zumutung und Verunsicherung. Die "mütende" Stimmung jetzt ist auch ein Vorgeschmack darauf.

Millionen Menschen erleben gerade am eigenen Leib, dass der "Organisationsweltmeister Deutschland" eine schöne Erinnerung ist, eine Selbstgewissheit auf tönernen Füßen. Die Bürger haben auf allen Ebenen, bis hinunter zur Stadtteil-Behörde, ihren Staat jetzt so anhaltend kennengelernt wie ganz lange nicht. Einiges hat gut funktioniert, gerade in der ersten Jahreshälfte 2020. Aber viel zu viel funktioniert eben nicht, und auch nach einem Jahr Pandemie wird es nicht besser, was vielleicht das Schlimmste ist. Das nennt man etwas sperrig "Vollzugsdefizit". Man kannte es klischeeweise nur aus südeuropäischen Ländern und lachte darüber. Jetzt wird viel über Deutschland gelacht.

Agenda Corona?

Weil auf allen staatlichen Ebenen schnelle Lösungen bei Masken, Tests und Impfen in Rückständigkeit oder Bürokratie versinken, muss vieles anders werden. Das aber bedeutet: Reformen, die das Land in seinen Strukturen verändern, vielleicht sogar in seiner Geisteshaltung.

Vergleichbar ist das mit dem Anfang der Nuller Jahre. Damals hieß es: So geht es nicht weiter mit Wachstumsschwäche, fünf Millionen Arbeitslosen und Deutschland als traurige Trägerin der Roten Laterne in der Europäischen Union. Am Ende musste sich die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Schröder zur größten Sozialstaatsreform der Nachkriegsgeschichte durchringen, zur Agenda 2010. Millionen Menschen wurde zum Wohle des Ganzen eine Menge zugemutet, die Verunsicherung in der Mitte der Gesellschaft hallt bis heute nach.

Das muss sich bei Post-Corona-Reformen keineswegs in dieser Form wiederholen, aber viele, viele im Land werden genau das befürchten. Sie wollen einfach nur ihr Leben zurück, wenn die Pandemie gebannt ist - und am liebsten nicht weiter behelligt werden, schon gar nicht mit großen Veränderungen. Doch diesen Gefallen wird ihnen die nächste Bundesregierung nicht tun können. Corona wirft einen langen Schatten in die Zukunft, vielleicht so nachhaltig, wie es Schröders Agenda 2010 tat.

Quelle: ntv.de

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