Person der Woche Panzer statt Pazifismus: Woher kommt der Kriegskurs der Grünen?
07.06.2022, 19:48 Uhr Artikel anhören
Ausgerechnet die Grünen werben am lautesten für Waffenlieferungen in den Ukraine-Krieg. Die Republik ist verblüfft: Aus den einstigen Friedensbewegten ist plötzlich eine Partei aus Militärfreunden geworden. Es gibt verborgene Gründe für die radikale Kehrtwende.
Der "Spiegel" nennt sie inzwischen "Panzerfans" und "die Olivgrünen". Die "Zeit" kommentiert: "Von wegen Pazifistenpartei: Die Grünen wirken derzeit eher wie Bellizisten". Das "Handelsblatt" sieht "Waffen statt Windräder" als neue Leitlinie der Grünen. Die "Südwestpresse" urteilt: "Die Grünen sind keine Friedenspartei mehr." Der Deutschlandfunk diagnostiziert gar "Das Ende der Grünen, wie wir sie kennen." Frieden schaffen mit mehr Waffen, das sei das neue Motto der Grünen, kommentiert die FAZ. Und die "Berliner Zeitung" findet gar, "die Grünen drehen an der Eskalationsspirale".
Es gehört zu den verblüffenden Wendungen des Jahres 2022: Ausgerechnet die Grünen, die einst Friedensbewegten, die jahrzehntelang gegen Waffenexporte protestierten, die gegen Aufrüstung kämpften und mit Militär so viel zu tun hatten wie die FDP mit Sozialismus, ausgerechnet sie ziehen heute die Rüstungs- und Kriegsfahne hoch. In ihrem ersten Wahlprogramm 1980 forderte die Partei noch die "Demontage" der Bundeswehr und "die sofortige Auflösung der NATO". Und selbst in ihrem Wahlprogramm von 2021 forderten die Grünen unmissverständlich, dass "keine deutschen Waffen in Kriegsgebiete" exportiert werden dürften.
Die Republik reibt sich daher partei- und medienübergreifend die Augen, denn die Grünen setzen sich nun am vehementesten für Waffenlieferungen in den Ukraine-Krieg ein. Manch grüner Spitzenpolitiker redet inzwischen wie einst nur NATO-Generalsekretäre oder Pentagon-Offiziere. Von Marieluise Beck bis Anton Hofreiter kommen die schärfsten Aufrufe zum militärischen Engagement. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ätzte bereits, Hofreiter rede wie ein "Militarist mit langen Haaren". Doch auch das Machtzentrum der Partei, Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck sowie die beiden Parteivorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour stehen geschlossen hinter dem militärischen Falken-Kurs.
Vier Gründe
Es sind die Grünen, die den wankelmütigen Kanzler und seine unsichere Verteidigungsministerin vor sich her treiben, mit markigen Forderungen. Mehr Waffenexporte, mehr Bundeswehr, mehr NATO, mehr Abschreckung - das ist die radikal neue Tonlage der Grünen im Frühjahr 2022. Und auch die Wählerschaft der Grünen sind zu mehr als zwei Dritteln für die Lieferung schwerer Waffen, mehr als bei jeder anderen Partei. Ein Spitzenpolitiker der SPD erklärte bei einem Journalistentreffen in Berlin konsterniert, "die Grünen und das woke Deutschland sind die neuen Bellizisten".
Die viel zitierte "Zeitenwende" ist jedenfalls bei den Grünen stärker angekommen als in jeder anderen Partei. Aber warum eigentlich? Vier Dinge spielen dabei eine Rolle.
Erstens waren die Grünen schon vor dem Kriegsausbruch die russlandkritischste Partei in Deutschland. Während Linkspartei und AfD geradezu obszöne Moskautreue pflegten, während FDP und Union nur verhalten kritisch waren und die SPD sogar allerlei kompromittierende Beziehungen zum Putin-Gazprom-System pflegte, sind die Grünen seit Jahren klar moskaukritisch positioniert - bis hin zur konsequenten Ablehnung der Pipeline Nord Stream 2. Habeck wollte schon im vergangenen Sommer - weit vor Kriegsausbruch - die Ukraine mit Defensivwaffen versorgen. Sie fühlen sich daher jetzt bestätigt und überbetonen gerne ihre Russland-Kritik, um als auf der richtigen Seite der Geschichte stehend wahrgenommen zu werden.
Zweitens wirkt bei den Grünen die Kosovo-Entscheidung von 1999 wie eine Umschreibung ihrer Partei-DNA nach. Damals führte Joschka Fischer seine Partei mit dem bewegenden Argument in den Kosovo-Krieg, es gelte einen Völkermord zu verhindern, ein "neues Auschwitz". Damit weckte Fischer nicht nur den Antifa-Reflex im grünen Milieu, sondern auch den tief sitzenden Rigorismus der Partei. Grüne pflegen den hohen Ton der Moralität gerne und in mancher Debatte bis hin zur Klimafrage. Keine Partei trägt so viel Pathos vor sich her, auch daher ist der Kampf gegen die "eklatanten Menschenrechtsverstöße Putins" vom traditionellen moralischen Überschwang geprägt. Habecks Wording dazu lautet: "Wenn man nichts tut, beteiligt man sich am Töten." Union, SPD und FDP sind hingegen jahrzehntelang im realpolitischen Abklingbecken der Moralität. Ihre Tonlage ist daher in außenpolitischen Krisen grundsätzlich modulierter, abgewogener als die der Grünen.
Drittens kann man bei den Grünen 2022 einen gewissen Konvertiten-Effekt beobachten. Die Partei - und insbesondere das Führungsquartett - haben die Seiten gewechselt und wollen nach den langen Oppositionsjahren unbedingt beweisen, dass man Regierungsverantwortung und Realpolitik kann und sich auch vor unangenehmen Entscheidungen nicht drückt. Darum wirken Grüne derzeit zuweilen besonders beflissen und staatstragend. Da wird der Stahlhelm schon mal enger gezurrt als bei anderen Parteien. Ähnlich wie Glaubenskonvertiten ihre jeweiligen Bekenntnisse besonders überzeugt und inbrünstig vortragen, so klingt es derzeit auch bei manchem Grünen, der in seiner Jugend noch Ostermarschierer war und jetzt in Talkshows über die Kalibergrößen von Panzerhaubitzen räsoniert.
Viertens haben die Grünen mit ihrem Falken-Kurs zusehends Erfolg. Ihre Umfragewerte sind seit ihrer bellizistischen Positionierung deutlich gestiegen. Während sich der wankelmütige Kanzler zaudernd, introvertiert und leise durch die Krise tastet, während die Verteidigungsministerin von einer Blamage zur nächsten stolpert, machen die Außenministerin und der Wirtschaftsminister starke Figuren. Die Umfragen für Scholz und die SPD fallen, obwohl der Kanzler normalerweise von außenpolitischen Krisen immer profitiert. Sein abwägendes Verhalten bei den Waffenlieferungen wird offenbar nicht honoriert. Baerbock hingegen fällt die politische Wende von einer leidenschaftlichen Friedensaktivistin zur entschiedenen Sicherheitspolitikerin nicht nur leicht, sie spürt auch die breite Akzeptanz für diese klare Haltung - und so macht ausgerechnet die Frau für Diplomatie, Völkerrecht und Friedensverhandlungen nun Furore mit dem Militärischen. Das Olivgrüne wird honoriert. Baerbock ist plötzlich Deutschlands beliebteste Politikerin.
Quelle: ntv.de