Wirtschaft

Angst vor "politischer Wartung"Nord Stream 1 wird abgeschaltet

10.07.2022, 19:24 Uhr
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Die Arbeiten finden an den Verdichterstationen statt, etwa in Lubmin bei Greifswald. (Foto: REUTERS)

Ab Montag fließt kein Gas mehr durch die Pipeline Nord Stream 1 aus Russland nach Deutschland. Der Grund: Wartungsarbeiten. Bundesnetzagentur und Wirtschaftsminister Habeck fürchten, dass der Kreml die Lieferungen auch danach nicht wieder aufnehmen wird.

Die wichtigste Verbindung für russisches Erdgas nach Deutschland wird am Montagmorgen abgeschaltet. Grund sind jährlich wiederkehrende Wartungsarbeiten an der Ostseepipeline Nord Stream 1, die der Betreiber bereits vor längerer Zeit angekündigt hatte. Angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine gibt es Zweifel dran, dass der Kreml den Gashahn wieder aufdrehen wird.

Nach Angaben der Betreibergesellschaft Nord Stream AG beginnen die Arbeiten am Morgen um 6 Uhr und sollen am 21. Juli abgeschlossen sein. In dieser Zeit werde kein Gas durch die Pipeline nach Deutschland befördert. Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller sagte, die Frage sei, ob aus der bevorstehenden regulären Wartung "eine länger andauernde politische Wartung wird". Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ist sich nicht sicher. Peter Adrian, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), sagte, sollte Russland die Gas-Lieferung dauerhaft stoppen, wäre das der "Super-GAU": "Viele Betriebe müssten ohne Gas-Bezug ihre Produktion einstellen. Wenn dieser Fall eintritt, dann befürchte ich ganz klar eine Rezession."

Hinzu käme das Problem von Engpässen, so Adrian weiter. Es gebe Firmen, die beispielsweise zur Herstellung von Schläuchen für Dialysegeräte Gas bräuchten. "Aus den bisherigen Informationen wissen diese Unternehmen nicht, was mit ihnen passiert. Aber wenn solchen Betrieben im Winter der Gashahn zugedreht wird, dann werden wir auch in der Gesundheitsversorgung sehr schnell Engpässe erleben. Es gibt Tausende solcher Beispiele, wo Wechselwirkungen oder mögliche Kettenreaktionen im Vorhinein nicht richtig bedacht werden können."

Bundeskanzler Olaf Scholz betonte, die Bundesregierung habe bereits binnen kurzer Zeit viele Entscheidungen getroffen, damit Deutschland gut vorbereitet sei "auf Mangellagen, etwa wenn es um Gas geht". Der SPD-Politiker sagte: "Wir bauen Pipelines, Flüssiggasterminals. Wir sorgen dafür, dass eingespeichert wird in unsere Gasspeicher. Und wir sorgen dafür, dass jetzt Kohlekraftwerke genutzt werden, damit wir Gas sparen." Auf lange Sicht werde es aber darum gehen, unabhängig zu werden vom Import von Öl, Kohle und Gas und den Anteil der erneuerbaren Energien auszubauen.

Kanada will Turbine liefern

Das russische Staatsunternehmen Gazprom hatte im Juni bereits die Liefermenge durch die mehr als 1200 Kilometer lange Pipeline von Russland nach Mecklenburg-Vorpommern deutlich gedrosselt - und das unter anderem mit dem Fehlen einer Turbine begründet. Derzeit wird die Leitung laut Bundesnetzagentur nur zu etwa 40 Prozent ausgelastet.

Auch russische Gaslieferungen über andere Leitungen nach Deutschland waren zuletzt zurückgegangen. Gleichzeitig erhalten mehrere europäische Staaten bereits kein Gas mehr aus Russland. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine Ende Februar gilt die Versorgung Europas mit Gas aus Russland als gefährdet.

Die kanadische Regierung kündigte am Wochenende an, die Lieferung der gewarteten russischen Nord-Stream-1-Turbine nach Deutschland zu ermöglichen. Zuvor hatte die Regierung in Moskau mitgeteilt, bei der Rückkehr der Turbine wieder mehr Gas durch die Pipeline zu pumpen. Kremlsprecher Dmitri Peskow versicherte, Russland setze Gaslieferungen nicht als politisches Druckmittel ein.

"Albtraum-Szenario"

Laut Bundesnetzagentur finden die angekündigten Arbeiten nicht direkt an der Leitung statt, sondern an den Verdichterstationen, etwa in Lubmin. Laut Betreiber geht es unter anderem um die Überprüfung und gegebenenfalls Instandsetzung oder Kalibrierung etwa der Stromversorgung, des Brand- und Gasschutzes sowie bestimmter Ventile. Auch Software-Updates würden vorgenommen. Die Offshore-Pipelines blieben weiter unter Druck. Entsprechende Arbeiten hätten in den vergangenen Jahren zwischen 10 und 14 Tagen gedauert, so die Netzagentur.

Eine dauerhafte Abschaltung könnte laut Modellen der Behörde unter Umständen zu einem Gasmangel in Deutschland im Winter führen. Habeck sprach im Deutschlandfunk von einer drohenden "Zerreißprobe". Sollte das "Albtraum-Szenario" einer Gas-Unterversorgung Realität werden, rechne er mit heftigen Debatten, sagte der Grünen-Politiker. "Das wird die gesellschaftliche Solidarität bis an die Grenze und wahrscheinlich darüber hinaus strapazieren."

"Auch wenn wir in keine Gasnotlage kommen, bleibt das Gas teuer", sagte Netzagentur-Chef Müller dem "Focus". Dabei seien die Folgen der aktuellen Gasknappheit preislich bei den Verbrauchern noch gar nicht angekommen. "Das kann für eine Familie schnell eine Mehrbelastung von 2000 bis 3000 Euro im Jahr bedeuten. Da ist die nächste Urlaubsreise oder die neue Waschmaschine dann oft nicht mehr drin." Deutschland drohe eine "Gasarmut". Er rief mit Blick auf den Herbst und Winter dazu auf, Energie und damit Gas zu sparen. "Jede noch so kleine Maßnahme zählt", sagte er. "Ich verstehe, dass da manche jetzt drüber lachen. Wenn sie die nächste Gasrechnung bekommen, wird ihnen das Lachen aber vergehen."

Quelle: ntv.de, jga/dpa

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