Leben

Auf dem Weg zum Schachstar Dinara Wagners Leben hat wenig von "Damengambit"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
"Freundinnen sind wir nicht, aber wir gehen freundlich miteinander um", sagt Wagner (M).

"Freundinnen sind wir nicht, aber wir gehen freundlich miteinander um", sagt Wagner (M).

(Foto: Helen Smith)

ntv.de begleitet die für Deutschland startende Schachsportlerin Dinara Wagner nach Zypern, dorthin, wo sie einen sensationellen Turniersieg feiert. Wagner gewährt einen interessanten Blick hinter die Kulissen einer Sportart, in der Frauen auch im Jahr 2023 noch immer einen ziemlich schweren Stand haben.

Man muss sich Dinara Wagner als eine sehr freudestrahlende Frau vorstellen. "Das ist der größte Erfolg meines Lebens", so die 24-Jährige, nachdem sie sich Ende Mai wirklich vollkommen unerwartet den Sieg beim vierten und finalen Turnier der "Women's Grand Prix"-Serie auf Zypern geholt hat. "Ich bin überglücklich, denn damit habe ich wirklich nicht gerechnet."

Dinara Wagner ist Schachspielerin, Profi-Schachspielerin. Im Feld der zwölf Frauen, die elf Tage lang hintereinander jeweils um Punkt 15 Uhr im Jede-gegen-Jede-Modus in einem etwas lichtarmen Konferenzraum des Hilton Hotels in Nikosia gegeneinander antraten, ist sie - jedoch nur auf dem Papier - die krasse Außenseiterin: Rang 42 auf der Frauenweltrangliste, sie ist mit einer Wildcard nach gewonnener Qualifikation ins topbesetzte Turnier gekommen.

Die glückliche Gewinnerin bleibt dennoch auf dem Teppich.

Die glückliche Gewinnerin bleibt dennoch auf dem Teppich.

(Foto: Helen Smith)

Wagner hatte so gut wie niemand aus der Schachwelt auf dem Zettel. Aber gerade dann wächst sie über sich hinaus. "Gleich im ersten Spiel habe ich Alexandra Goryachkina, die Vizeweltmeisterin und Weltranglistenzweite, geschlagen, das war ein Superauftakt," freut sich die Wahlheidelbergerin. Gefeiert habe sie die kleine Sensation nicht, erzählt sie ntv.de im Hotel, als sie ein halbes Stündchen Zeit hat. Ihre Turniertage in Nikosia sind eng getaktet: Frühstück, Videobesprechung mit dem Trainer, Mittagessen, die tägliche Partie, Abendessen, Onlinegespräch mit Ehemann Dennis Wagner, ebenfalls Schachspieler, Ausruhen, Bett. Nur am Abend der Eröffnungszeremonie gönnt sie sich ein Getränk und sitzt noch eine Weile mit ein paar Kolleginnen zusammen. "Freundinnen sind wir nicht", sagt Dinara, "aber wir gehen freundlich miteinander um."

Später im Turnier wird Wagner auch die Weltranglistenvierte Kateryna Lagno besiegen und ihrem, wie sie sagt "großen Vorbild" Alexandra Kosteniuk ein Unentschieden abringen. Mit sieben von elf möglichen Punkten holt sie sich schließlich den ersten Platz, ein Preisgeld von 15.000 Euro und die Großmeister-Norm. In der Weltrangliste macht sie einen Sprung auf Rang 28, die bestplatzierte Deutsche Elisabeth Pähtz steht aktuell auf Platz 17.

Zum Schachspiel kam Dinara schon als kleines Mädchen. "Mein Opa hat mir die Züge gezeigt, ich mochte das Spiel auf Anhieb. Meine Oma hat mich dann mit sechs Jahren im Schachclub angemeldet." So jung solle man auch sein, wenn man mit dem Sport beginne, findet sie. Dinara Wagner, geborene Dordschijewa, ist in Elista, der Hauptstadt der zu Russland gehörenden autonomen Republik Kalmückien, geboren und aufgewachsen. Die knapp 300.000 Einwohner sind mehrheitlich mongolischer Abstammung und buddhistischen Glaubens. Wer Kalmückien auf der Landkarte suchen will, wird nordwestlich des Kaspischen Meeres fündig.

Schach hat ein Problem

Dinara wird im Schach sehr schnell sehr gut, gewinnt mit zehn Jahren erste Meisterschaften, und lernt 2019 bei einem Turnier in Riga den in Kassel geborenen Kollegen Dennis Wagner kennen. Sie heiraten Ende 2021. Nach der Invasion Russlands in der Ukraine spielt Dinara Wagner zunächst unter der Flagge des Internationalen Schachverbands FIDE: Nur Russinnen und Russen, die nicht für ihr Heimatland antreten, dürfen weiterhin an der von der FIDE ausgerichteten Turnieren teilnehmen. Die russischen Turnierteilnehmerinnen sind, so erfährt man vor Ort, durchaus systemkritisch, teilweise treten sie für andere Länder oder unter neutraler Flagge an. Seit Mai 2022 startet Wagner für Deutschland. "Es hat sich gut gefügt", sagt sie.

Die Wagners leben in Heidelberg. "Ich liebe die Stadt", schwärmt Dinara, "Heidelberg ist wirklich wunderschön. Wir planen unsere Zukunft dort." Dennis hat in Heidelberg Physik studiert, arbeitet inzwischen bei SAP und spielt Schach als Halbprofi. Dinara, die bereits in Moskau einen Bachelor-Abschluss in Weltwirtschaft gemacht hat, studiert Volkswirtschaft, Spezialgebiet Verhaltensökonomie. "Das ergänzt sich gut. Sowohl in meinem Studium als auch beim Schach geht es sehr viel um Psychologie." Ob Dinara Wagner nach ihrem Studium als Profi-Schachspielerin weitermache, hänge auch davon ab, "wie es in den nächsten Jahren so läuft."

Denn Schach hat ein echtes Problem: Frauen sind in der Sportart, die seit Jahren vor allem dank der immer finessenreicheren Möglichkeiten des Online-Schachs in aller Welt einen Boom erlebt, noch immer unterrepräsentiert. Daran hat auch die extrem erfolgreiche Netflix-Serie "Das Damengambit" vor zwei Jahren nicht allzu viel geändert. Im Deutschen Schachbund zum Beispiel gibt es 89.400 Mitglieder, darunter sind lediglich 8297 Frauen, also weniger als zehn Prozent. Unter den ersten Hundert der Weltrangliste steht derzeit keine einzige Frau. Elisabeth Pähtz, die deutsche Nummer Eins bei den Frauen, liegt in der gemischten deutschen Rangliste gerade mal auf Platz 58. Dabei haben Männer im Schach per se keinen Vorteil gegenüber Frauen. Die Ungarin Judit Polgár, die als erfolgreichste Schachspielerin aller Zeiten gilt, schaffte es 2005 in der Weltwertung auf Platz acht, sie schlug unter anderem die Ex-Weltmeister Anatoli Karpow und Garri Kasparow, hat sich aber 2014 vom Profischach zurückgezogen.

"Was dem Schach derzeit noch fehlt, sind weibliche Stars für ein neues Zeitalter", sagt Arkady Dworkowitsch, der Präsident des FIDE, in Nikosia. Einst offizieller Berater des russischen Ex-Präsidenten Medwedew ist er heute ein erklärter Kriegsgegner und sagt: "Wir brauchen nur noch ein bisschen Zeit. Ich bin optimistisch, dass auch bei den Frauen eine schillernde Persönlichkeit heranwachsen wird, so wie bei den Männern beispielsweise ein Magnus Carlsen." Der 32-jährige Norweger Carlsen ist seit anderthalb Jahrzehnten quasi das Gesicht des Sports. Ihn kennen selbst Menschen, die beim Schachspiel den Springer nicht vom Bauern unterscheiden können.

Müllhaufen der Gleichberechtigungsgeschichte

An und für sich ist Schach - so wie zum Beispiel Spring- oder Dressurreiten - eine Sportart, in der Frauen und Männer zusammen gegeneinander antreten. In der Schachbundesliga bilden Frauen und Männer gemeinsame Teams, und nach wie vor gibt es die sogenannten offenen Turniere, bei denen Frauen allerdings noch immer das Nachsehen haben. Der Grund ist banal: Es spielen einfach viel weniger Frauen auf Spitzenniveau Schach als Männer, das Verhältnis liegt beharrlich bei eins zu zehn. Allein die Wahrscheinlichkeitsrechnung sorge so dafür, dass "Schach immer noch als eine Männersportart wahrgenommen wird", so Dinara Wagner.

Andere Mutmaßungen, den Gendergap im Schachsport betreffend zu erklären, sind eher auf der sexistischen Seite des Spektrums angesiedelt: Dass Männer mehr Ausdauer und mehr Durchhaltevermögen hätten. Außerdem mehr Bereitschaft, die nötigen vierzig bis sechzig Wochenstunden in ihren Sport zu investieren. Oder dass sich Jungs besser auf eine Sache konzentrieren könnten, während Mädchen schneller von anderen Interessen abgelenkt würden - diese auch in Nikosia von den Funktionären immer wieder mal genannten Thesen gehören eher auf den Müllhaufen der Gleichberechtigungsgeschichte.

Kern der Strategie des Internationalen Schachverbands sei es in jedem Fall, so Dworkowitsch, immer mehr attraktive Turniere wie die vierteilige "Women's Grand Prix"-Serie nur für Frauen zu veranstalten. Das Turnier machte in diesem Jahr auch in München Station. Parallel steigen die Preisgelder, Frauen sollen so ermutigt werden, dranzubleiben und die Profi-Option nicht spätestens mit Mitte zwanzig zu verwerfen.

FIDE Präsident Arkady Dworkovitsch (l) und Timur Turlov.

FIDE Präsident Arkady Dworkovitsch (l) und Timur Turlov.

(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)

Sponsor des mit 100.000 Euro dotierten Turniers auf Zypern etwa ist das Fintech- und Finanzdienstleistungsunternehmen Freedom Finance des kasachischen Milliardärs Timur Turlov. Der baumlange Mittdreißiger ist an den ersten Turniertagen allgegenwärtig und alles andere als medienscheu. Zum Schachspiel sei er über seine sechs schachbegeisterten Kinder gekommen, erzählt er. Auch fördere das Spiel analytische Fähigkeiten, die gerade in der Finanzbranche gefragt seien. Die Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen der Europazentrale von Freedom Finance im südzypriotischen Badeort Limassol und dem Austragungsort im eine Autostunde entfernten Nikosia geben könnte, liegt nahe, wird aber nicht weiter thematisiert. Lieber tönt Turlov: "Unsere Mission ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass auch Frauen im Schach ganz nach oben kommen".

Neben mehr Geld, so sieht es Dinara Wagner, die übrigens gegen Frauen und Männer gleich gerne spielt, wäre auch mehr Wertschätzung nicht schlecht. "Ich finde es super, dass es immer mehr Möglichkeiten für Frauen gibt, Schach auf Topniveau zu spielen, und dass der FIDE viel unternimmt, um die Lücke zwischen Frauen und Männern zu schließen", sagt sie. "Allerdings ist es mindestens ebenso wichtig, dass sich Frauen und Mädchen im Schach wohl und sicher fühlen. Sexismus, dumme Sprüche und Anmachen gibt es auch bei uns. Auch bei gemischten Turnieren sollte dringend mehr für ein freundliches und empathisches Umfeld getan werden, das Frauen er- und nicht entmutigt."

Sie selbst, so erzählt Dinara Wagner, habe großes Interesse, ihr Wissen und Können später in Seminaren oder Masterklassen an Mädchen (und auch an Jungs) weiterzugeben. "Ich freue mich, wenn es neue, insbesondere weibliche, Talente in Deutschland gibt, die Lust auf Schach haben, und denen ich vielleicht ein bisschen helfen kann." Aber momentan fehle ihr die Zeit. Denn Dinara Wagner ist gerade voll damit ausgelastet, selbst ein Schachstar zu werden. Ihr nächstes Turnier spielt sie ab dem 24. Juni bei den Dortmunder Schachtagen.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen