Glamour, Adel, Mafia Im Herzen Siziliens - willkommen in der neuen Welt


Die 26 Meter hohe Stern-Stahlskulptur von Pietro Consagra ist das Wahrzeichen des neuen Gibellina und des Belice Tals geworden. (
(Foto: privat)
Fast allein sind Reisende auf den Spuren eines futuristischen Experiments im sizilianischen Belice-Tal unterwegs. Gibellina wurde 1968 von einem Erdbeben zerstört, heute sind der alte und der neue Ort ein riesiges Freilichtmuseum. Mehr Kunst draußen und kostenlos gibt es nirgendwo sonst in Europa.
Pittoreske Paläste, türkisgrünes Wasser, spektakuläre Klippen und Strände. Sizilien ist diesen Sommer - nicht nur - für Fans der preisgekrönten Gesellschaftssatire "White Lotus" ein Muss. Set-Touren rund um Drehorte wie Taormina sind beliebt, aktuell wird in Palermo die Netflix-Serie "Der Leopard" gedreht. Die schillernde Familiengeschichte vom Niedergang der Aristokratie ist ein Klassiker der Weltliteratur - der Sizilien-Hype wird andauern. Dabei lockt die Insel natürlich nicht nur mit Glamour-, Adels- und Mafiageschichten.
Ganz oben auf der to-do-Liste steht auch der Ätna. Der aktive Vulkan mit seinem schwarzen Lavagestein zieht Menschen magisch an. Naturgewalten, wie Vulkanausbrüche und Erdbeben hinterlassen auf der Insel immer wieder ihre Spuren. Besonders im Landesinneren, wo es weniger touristisch ist - weit weg von legendären Seriendrehorten, Kulturdenkmälern der UNESCO oder traumhaften Stränden. Die Landschaft ist eindrucksvoll - selbst im Sommer, wenn alles knochentrocken ist. Die Reisenden sind fast allein und dazu können sie umsonst einmalige Kunst erleben. Einheimische, wie der Restaurantbesitzer Camillo aus Palermo, sagen: "Wer nicht im Herzen Siziliens war, hat die Insel nicht besucht."
Die ausgedehnte Weite, mit denen sich die hügelige Landschaft im Hinterland erstreckt, wirkt beruhigend. Blühende Felder und kleine Häuser ziehen vorüber, wechseln sich gelegentlich mit Unrat am Straßenrand ab. Sizilien hat ein Müllproblem, dank der Mafia. Das ist jedoch ein weites Feld und muss separat beackert werden. Auf dem Weg ins Belice-Tal treffen nur wenige Menschen aufeinander. Ein besonderer Platz, knapp 70 Kilometer südwestlich von Palermo, ist Gibellina Nuova - und ein Geheimtipp noch dazu.
Reiseführer erwähnen das Städtchen mit dürren Worten eher unter beiläufig. Dabei ist der Ort ein interessanter Kontrast zu den vielen historischen Kunstschätzen Siziliens aus Zeiten des Altertums, Mittelalters und Barocks. Gibellina Nuova ist zwar ein einsamer Ort, aber ein visionäres Projekt, voller moderner Skulpturen.
Verblichene Wohnutopie

Verblichene Stadt-Utopie: Der spektakuläre Theaterbau des Bildhauers Pietro Consagra wurde nie fertiggestellt.
(Foto: privat)
Die Vorgeschichte ist grausam, denn im Januar 1968 erschütterte ein Erdbeben mehrfach das Belice-Tal. Innerhalb von Sekunden waren Gibellina und sechs weitere Dörfer komplett zerstört. 400 Menschen starben in diesem so sanft aussehenden Tal, es gab Hunderte Verletzte und 100.000 Bewohner waren über Nacht obdachlos. Jahre später wurde 18 Kilometer entfernt ein futuristisches Experiment gewagt: Gibellina Nuova. Hier sollte alles großzügiger sein, nicht so chaotisch und eng wie in dem im 14. Jahrhundert gegründeten Ursprungsdorf.
In Italien, das oft von Naturkatastrophen heimgesucht wird, ist es keine Seltenheit, einen Ort wieder woanders aufzubauen. Als der deutsche Künstler Joseph Beuys das alte Gibellina besuchte, war er erschüttert. "Menschen und Natur werden mit vereinter Seele eine neue Welt bauen", hoffte er damals. Am neuen Ort ist von prächtigem sizilianischem Barock nichts zu finden. Einheitlich breite Straßenzüge, wie vom Reißbrett, werden durch kleine Plätze und grüne Oasen aufgegliedert. Verkehrstechnisch ist Gibellina Nuova an den Rest der Insel gut angeschlossen. Viele bekannte Architekten und Künstler sind über die Jahre angereist, um ihre Ideen, Bauten und Kunstwerke beizusteuern. Bis in die späten 80er Jahre flossen reichlich internationale und nationale Gelder. Der Politiker und Anwalt Ludovico Corrao war die treibende Kraft dahinter. Er wurde 84-jährig von einem Angestellten 2011 in Gibellina ermordet und dort beerdigt. Gerüchteweise war der Mann sogar sein Liebhaber.

Die gigantischen Kugel und das Amphitheater gehören zur Kirche "Chiesa Madre" von Luisa Anversa und wurde 1985 -2010.
(Foto: privat)
41 Skulpturen, Mosaike, Gebäude und Tore können bis heute besucht werden. Und haben ziemlich morbidem Charme: Die Plastiken, die über die ganze Stadt verteilt sind, bräuchten dringend ein Makeover. Überall bröckelt und bröselt es, Risse, Rost und Patina sind allgegenwärtig. Der imposante Theaterbau an der Piazza Joseph Beuys wurde nie fertiggestellt, obwohl hier im Sommer jahrelang das Who-is-who der europäischen Theaterstars an Festspielen teilnahm. Der anspruchsvolle Plan, einen modernen, idealen Ort voller Kunst, mit einem kulturell geprägten Leben zu schaffen, ist gescheitert. Es fehlt ein Ortskern, die Seele des italienischen Dolce-far-niente, den Cappuccino oder Apero auf der Piazza. Gerade mal 4000 Einwohner sind gemeldet, geplant wurde für 20.000. Eine auf einem Plakat angekündigte Gibellina-App ist im Store nicht zu finden. Das Geld, alles zu erhalten, fehlt. Es müssten wohl mehr Touristen kommen, um die Kunst zu schätzen und nachhaltig zu schützen. Diese missglückte Wohnutopie ist aber einfach sehenswert!
Auf Kunst spazieren gehen

Das größte Land-Art Werk Europas schmiegt sich perfekt in die hügelige Landschaft des Belice Tals.
(Foto: privat)
Im alten Gibellina liegt Cretto di Burri, das nächste Kunst-Highlight. Die Natur hat die verfallenen Ruinen weitestgehend zurückerobert. Hier haben die heilenden Kräfte der Natur, die sich Joseph Beuys gewünscht hat, gewirkt. Das historische Zentrum hingegen hat 1984 Alberto Burri übernommen. Auf den komprimierten Überresten hat der Künstler ein Labyrinth aus Beton errichten lassen. Dieser Baustoff leuchtet je nach Lichteinfall und Position mal hellgrau, rosa oder weißlich. Wie ein Leichentuch bedeckt die Schicht das alte, vom Beben erschütterte Dorf. Umhüllt zusammengebrochene Häusermauern und Möbel, verschüttete Küchenutensilien und Krimskrams.
Es ist wegen seiner Größe von knapp 80.000 Quadratmetern eines der größten Land-Art-Kunstwerke Europas. Alle können das Monument betreten. Burris gigantisches Denkmal zeichnet die Gassen des historischen Zentrums nach. Diese zementierten Überreste sind gleichzeitig zum Mahnmal geworden. Es ist zunächst berührend, die Gänge zwischen den 1,50 Meter hohen, unendlich vielen Blöcken zu betreten. Man spürt die Schwere, denkt an das katastrophale Erdbeben. Worauf genau läuft man da eigentlich im Moment? Bald wandern die Blicke auf die umliegenden Hügelketten, Felder, den weiten Himmel. Und irgendwann kommt der Moment, an dem Besucherinnen und Besucher alle Wegeinschnitte abschreiten möchten. Denn jedes Mal öffnen sich andere spannende Blickachsen.
Aus Geldmangel wurde das Projekt 1989 eingestellt und schließlich erst 2015 zu Alberto Burris 100. Geburtstag fertiggestellt. Er selbst hat das nicht mehr erlebt, er ist 1995 in Nizza gestorben. Für seine Collagen aus Stoff- und Sackfetzen, Plastik, gefundenen Nägeln und Holz war der Italiener weltweit bekannt. Seine Assemblagen aus wenig kostbarem Material waren auf der documenta in Kassel zu sehen und in Museen in New York oder Rom, wo er lange Zeit lebte. Das Thema seiner Kunst waren seine eigenen Kriegserlebnisse, für die er vielfach die Technik des Cretto (zu Deutsch: Riss) verwendete. Als der Künstler 1981 Gibellina Nuova besuchte, war ihm sofort klar, dass er einen seiner Cretti im ökologischen Maßstab schaffen wollte, aber am alten Platz. Jetzt treffen hier Kunst und Geschichte unter freiem Himmel aufeinander. Meisterhaft hat Burri Zerstörung, Verlust und Erinnerung miteinander verknüpft. Geblieben ist ein einzigartiges zeitgenössisches Kunstwerk, das im Gedächtnis bleibt.
Anreisen: Gibellina ist gut per Bus oder mit einem Auto ab Palermo zu erreichen. Am besten zuerst das Museo D'Arte Contemporanea Ludovico Corrao, MAC ansteuern. Hier gibt es einen übersichtlichen Faltplan. Außerdem ist dort eine Sammlung zeitgenössischer Kunst zu sehen, Interessierte können der Geschichte Gibellinas auf den Grund gehen. Viale Segesta, 91024 Gibellina, geöffnet 9.30 bis 13 Uhr und 16 bis 18 Uhr, montags geschlossen.
Übernachten: Auf halber Strecke zwischen Palermo und Gibellina liegt das Agriturismo Antichi Granai. Inmitten herrlicher Landschaft kann man in dem Landgut wunderbar schlafen und gut essen. Alternativ zurück in Palermo, zum Beispiel im NH-Hotel direkt am Meer und nah an der quirligen Altstadt.
Essen: Die palmeritanische Küche ist geprägt von fremden Kulturen und von dem, was die Insel an saisonalen Lebensmitteln hergibt. Streetfood spielt eine große Rolle. Gut zu erleben ist das auf dem Ballarò-Markt.
Das Bisso Bistrot findet sich als Tipp zwar in vielen Reiseführern, Blogs und Insiderlisten, aber die Pasta ist eben auch wirklich empfehlenswert und günstig. Hier mischen sich Einheimische mit Touristen. Keine Reservierung möglich, aber das Warten lohnt. Auch gut sind A'nica mit Terrasse neben einer Kirche oder das Al Fresco, wo man in einem schönen Garten sitzt.
Lesen: "Der Leopard" von Giuseppe Tomasi di Lampedusa ist ein Klassiker der Weltliteratur. Der einzige Roman des italienischen Adligen erzählt schillernd vom Niedergang eines sizilianischen Adelsgeschlechts im 19. Jahrhundert. Ein großer Roman, der nichts an seiner Aktualität verloren hat und auch eine Art morbider Reiseführer für Sizilien ist. Hervorragend neu übersetzt von Burkhart Kroeber.
Gucken: Die 2. Staffel der bissigen Satire "White Lotus" spielt in Sizilien, seither steht die Insel auf der Liste von Influencern ganz oben, besonders Taormina wird gehypt. Regisseur Mike White sagt, dass es die White Lotus-Folgen rund um Menschen in Luxushotels verschiedene Schwerpunkte haben. Die erste Staffel behandelt das Thema Geld, in der zweiten geht es um Sex. Gedreht wurde in Taormina, Cefalù und Palermo.
Quelle: ntv.de