Leben

"Nächstes Jahr noch besser" Ist das Superbloom München schon barrierefrei?

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Marko Schlichting ist blind und deshalb nicht so oft auf Festivals.

(Foto: Björn Czieslik)

Stars, Volksfest, Partystimmung: Am Wochenende feiern Tausende Menschen im Münchner Olympiapark beim Superbloom Festival. Es soll eine Party ohne Barrieren sein. Unser blinder Kollege hat getestet, wie barrierefrei das Superbloom wirklich war.

Es ist Samstag, der 3. September, früher Nachmittag. Ich bin endlich angekommen auf dem Superbloom Festival, wo ein Freund und Kollege auf mich gewartet hat. Er wird mich auf der Veranstaltung begleiten.

Es ist ein Festival der weiten Wege. Der Olympiapark im Münchner Norden ist 850.000 Quadratmeter groß. Da kann man 46 Millionen Schritte machen. Nach zwei Tagen werden sich meine Füße zenterschwer anfühlen. Und am Ende habe ich nur einen kleinen Teil des Festivals gesehen - ich spreche von "Sehen", obwohl ich das mit den Augen nicht kann. Ich nutze meine restlichen Sinne dazu, mein Freund macht den Reporter.

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Das Superbloom wollte auch die Entbehrungen der Corona-Zeit ein bisschen vergessen machen.

(Foto: Björn Czieslik)

Elf "Experience"-Bereiche werden geboten, Zirkus und Beauty, Politik mit jeder Menge Events und Diskussionen. Amnesty International ist vor Ort, selbst Yoga-Unterricht wird geboten. Doch im Mittelpunkt steht der Spaß: Es gibt viel Raum für Kinder, diverse Stände mit Currywurst, Falafel und Co. - und noch dazu 60 Bands und Künstler aus allen Musikrichtungen auf sechs Konzertbühnen. Das klingt fast überambitioniert. Aber die Berliner Agentur Goodlive und Superbloom-Chefin Fruzsina Szép wollten nach zwei Jahren Corona einfach eine Riesenparty, bei der für jeden was dabei ist.

Menschen mit Behinderung sind von solchen Großevents normalerweise ausgeschlossen. Beim Superbloom soll das anders sein. Rollstuhlfahrer haben keine Stufen zu überwinden, müssen aber bei Konzerten im Olympiastadion auf einer besonderen Tribüne sitzen. Gehörlose spüren bei fast allen Konzerten den Sound. An vielen "Fressbuden" hängen Speise- und Getränkekarten für Blinde. Die brauchen zum "Lesen" ein Smartphone, dessen Kamera einen QR-Code scannt und aktiviert. Die Preisliste erscheint dann auf dem Smartphone-Bildschirm und wird von einer künstlichen Stimme vorgelesen.

"Barrierefreiheit gibt es nicht"

Nach einigen Problemen beim Einlass am Vormittag läuft mittlerweile alles entspannt, die Sonne scheint. Noch.

Ich treffe Ron Paustian. Er selbst nennt sich gerne "Problemlöser". Seine psychische Behinderung merkt man ihm nicht an. Sie hat ihm die Augen geöffnet für die Probleme anderer Menschen. Nun berät er Veranstalter von Festivals, erstellt Hygienekonzepte, tritt als Speaker auf, veranstaltet Schulungen. Und er hat "Inklusion muss laut sein" gegründet. Die Non-Profit-Organisation hilft Menschen mit Behinderungen, ihre Freizeit so barrierefrei wie möglich zu gestalten. Früher begleiteten die freiwilligen Helfer behinderte Menschen vor allem auf Konzerte, mittlerweile besuchen sie jede nur denkbare Veranstaltung: von der Sexmesse bis zum Münchner Oktoberfest, vom Volksmusikfest in Bayern bis zum Metal-Festival in Wacken.

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Ron Paustian (li.) berät Veranstalter, wie sie zumindest "zugänglicher" für Menschen mit Behinderung werden können.

(Foto: Björn Czieslik)

Dort hat Paustian seine ersten Erfahrungen gemacht. "Barrierefreiheit gibt es nicht, höchstens Barrierearmut", sagt er. Und er hat recht: Meine wichtigste Barriere ist zum Beispiel meine Sehschädigung, und die kann mir niemand nehmen, damit komme ich alleine klar.

Paustian spricht lieber von "Zugänglichkeit". Was der Unterschied sei, frage ich ihn. Er erklärt: In Wacken zum Beispiel verwandle sich der Untergrund nach einem Regen in eine Matschlandschaft. Barrierearmut wäre ein fester Untergrund, doch das wollten die meisten Fans nicht. "Zugänglichkeit bedeutet für uns, dass im Notfall sofort vier Leute zur Hand sind und den Rolli samt Fahrer aus dem Matsch ziehen und ihn auch schon mal zur Bühne tragen." Rolli - so nennen viele Rollstuhlfahrer ihr Gefährt, mit dem sie sich vorwärts bewegen.

Paustian schätzt, dass am ersten Tag etwa 300 Menschen mit Behinderung das Barrierekonzept beim Superbloom wahrgenommen haben. Klingt wenig. Aber es sind 300 Menschen, denen in einem besonderen Ernstfall geholfen werden muss. Und der lässt nicht lange auf sich warten.

Unwetter, Chaos, wütende Zuschauer

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Wegen des Unwetters müssen Tausende unfreiwillig in den Innenraum des Olympiastadions, Essens- und Getränkestände werden geschlossen.

Wir haben gerade unser Gespräch beendet, da kommt die Unwetterwarnung - Regen, Gewitter. Die Gäste sollen sich in der Olympiahalle unterstellen. Und dann ist Pause. Alle Außenstände machen zu, nichts geht mehr.

Wir sitzen inzwischen im Olympiastadion, warten auf ein Konzert von Synth-Artist Years & Years, das dann ausfällt. Bei der Organisation und in der Kommunikation herrscht offenbar Chaos: Man kommuniziert über Facebook. Dass Superbloom eine News-App eingerichtet hat, wurde offenbar vergessen. Wut bei den Fans in der Olympiahalle: dort gibt es nichts zu essen und zu trinken, die Stände sind auch hier zu.

Nach knapp zwei Stunden geht es weiter, aber immer noch nicht ganz reibungslos. Bei Hauptact Calvin Harris wollen zu viele Fans ins Stadion. Irgendwann muss es die Festivalleitung schließen.

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Immerhin fiel Rita Oras Act nicht ins Wasser.

(Foto: Björn Czieslik)

Da feiern wir schon wieder Party - mit Harris' Ex-Schwarm Rita Ora, die Riesenspaß bei ihrem Auftritt hat und ihre Fans mitreißt.

"Wir lernen jeden Tag dazu"

Am Sonntagnachmittag wird Superbloom-Chefin Szép nach den Pannen gefragt. "Seit Corona ist nichts mehr wie früher", sagt sie. Viele Spezialisten für Festivals hätten sich nach anderen Jobs umgeschaut. "Wir mussten praktisch wieder bei Null anfangen." Aber: Man lerne jeden Tag etwas dazu. Und gelernt haben die Organisatoren über Nacht: Am Sonntag sind mehr Eingänge geöffnet, die Soundanlage im Olympiastadion ist neu eingestellt worden.

Und wie lief es mit der Barrierefreiheit? Ein Team von 20 freiwilligen Helfern ist ständig vor Ort. Keine Probleme. Doch Ron Paustian hätte sich noch mehr gewünscht: Niedrig angebrachte Schilder zum Beispiel speziell für Rollstuhlfahrer, beleuchtete Schilder für Menschen, die schlecht sehen. Aber sein größter Traum: "Ich möchte gerne einen Shuttleverkehr zwischen den Bühnen für Gehbehinderte und ältere Menschen."

Auch für mich sind die weiten Wege die größte Barriere an diesem Wochenende. Mir ist klar: Alleine hätte ich mich auf diesem Riesenfestival nicht bewegen können. Also hat mich mein Freund geführt. Er hat uns in den Konzertpausen mit Hamburgern und Bier versorgt und mir die Show von Rapper Macklemore beschrieben. Dafür habe ich ihn kostenlos auf die Veranstaltung mitgenommen: Fast alle Veranstalter erlauben Menschen mit Behinderung einen kostenlosen Begleiter - freiwillig. Gesetzlich ist das in Deutschland nicht geregelt.

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Moderatorin Christina Wolf, Festivaldirektorin Fruzsina Szép, Zweite Bürgermeisterin von München, Katrin Habenschaden, und Olympiaparkgeschäftsführerin Marion Schöne (v. li.).

(Foto: Björn Czieslik)

Auch Festival-Chefin Szép hat einen Traum, beantwortet sie meine Frage auf der Abschluss-Pressekonferenz: noch mehr Unterstützung für Gehörlose. Und dann erzählt sie von ihrem Vater, der mit sechs Jahren erblindete. Ihr kommen die Tränen, als sie sich an die vielen Familienspaziergänge durch den Olympiapark erinnert.

"Mir liegt Barrierefreiheit am Herzen", sagt sie. "Mein Vater hat mir immer gesagt: Benutze nicht nur deine Augen zum Sehen, sondern alles, was du hast."

Quelle: ntv.de

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