Leben

Von Farben und Fußball Katharina Grosse - der Name ist Programm

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"Mein Ausgangspunkt ist klar bestimmt, aber der Fortlauf stellt immer neue Bedingungen", sagt Katharina Grosse.

(Foto: Robert Schittko)

Um diese Künstlerin reißen sich Museen auf der ganzen Welt: Katharina Grosse entwirft außergewöhnliche Farbwelten, aktuell zum Beispiel in der Berliner Ausstellung "It Wasn't Us" im Hamburger Bahnhof. Wie arbeitet sie eigentlich? Eine Farbe spart sie aus, verrät sie ntv.de.

Katharina Grosse verwandelt Orte in einen einzigartigen, lebendigen Farbenrausch. Angefangen hat alles mit einer grünen Ecke. Inzwischen besprüht sie Stoffe, Asphalt, Sandstrände, Fassaden, ganze Häuser, Treppen, Möbelstücke. In Berlin läuft ihre Ausstellung "It Wasn't Us" in der historischen Halle und im Außenbereich des Hamburger Bahnhofs. ntv.de gibt sie Einblicke in ihre Arbeitsweise.

Was wild gesprüht aussieht, wird genauestens geplant. Katharina Grosse malt über Grenzen hinweg in den Raum und macht Kunst für alle erlebbar. Die Vorplanung im Berliner Atelier zieht sich über viele Monate. Wer Grosse, Jahrgang 1961, in dem schlichten Betonkubus in Berlin-Moabit besucht, gelangt über eine zunächst apfelgrüne und dann himmelblaue Treppe in den zweiten Stock und landet in ihrem Atelier. Im vorderen Raum steht auf einem großen Tisch ein Museumsmodell. "Meine Assistentinnen und ich besprechen und planen alles im Vorfeld mithilfe von Modellen in unterschiedlichen Maßstäben. Wenn die Strukturen fertig sind und der erste Aufbau vor Ort steht, fange ich mit dem Malen bei null an, ohne Bindungen an Skizzen. Alle malerischen Entscheidungen treffe ich an Ort und Stelle."

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100 Farben mischen sich vor und in den Augen.

(Foto: Jens Ziehe)

Bei ihrer Arbeit im Hamburger Bahnhof standen zuerst die Farben Weiß und dann Hellgelb zur Debatte. Wochenlang hat sie vor Ort gearbeitet. Mit Arbeitsoverall und Vollmaske geschützt arbeitet sie mit der Sprühpistole, bringt die Farben im Raum zum Schwingen. Den bis zu acht Meter hohen Styroporkörper hat Katharina Grosse vorher mit heißen Drähten akribisch in Form gebracht. Das Modell des Skulpturenkörpers wurde in einem speziellen Verfahren via 3D-Scan in die richtige Größe skaliert und dann Block für Block zusammengesetzt. "Mein Ausgangspunkt ist klar bestimmt, aber der Fortlauf stellt immer neue Bedingungen", sagt sie. Alles, was im Malprozess auftaucht, befindet sich für sie auf einer Ebene. Das sind Elemente wie Farbe und Malmaterial oder aber auch Wetter, Zeit, Menschen und sie selbst, aber die Beziehungen untereinander ändern sich fortlaufend. Sie beschreibt das als offenen Prozess, "deshalb verlangt meine Methode, dass ich alles, was im Prozess auftaucht, radikal annehme und in allen Konsequenzen akzeptiere".

100 Farben mischen sich vor und in den Augen. Sie scheinen zu tanzen, strömen flimmernd ineinander, explodieren effektvoll, türmen sich auf zu filigranen Eisbergen. Oder ist es eher zerklüftetes Schiefergestein? Mal leuchten Blau, Grün, Gelb oder Pink stärker, drängen sich in den Vordergrund, dann wieder erscheinen sie hingehaucht wie auf einem Aquarell. Jeder sieht und erlebt anders. Sicher aber wird der Betrachter von Katharina Grosses neuestem, raumsprengenden Werk verzaubert und immer wieder ein Teil von ihr: Mal schrumpft er vor und mit ihm, mal ist er größer als die Kunst.

Immer der Farbe nach

Es ist herrlich, auf den Farbwirbeln spazieren zu gehen, den Farbverläufen und -überlagerungen zu folgen. Die Grenzen zwischen den Objekten verändern sich durch die eigene Bewegung, bekommen neue, überraschende Dimensionen je nach Position. Atemberaubend, fantastisch, lebensbejahend sind alles treffende Beschreibungen für diese begehbare Installation, die zurzeit im und am Hamburger Bahnhof zu sehen ist.

Studiert hat Grosse in Düsseldorf an der Kunstakademie bei Gotthard Graubner, der für seine riesigen Kissenbilder bekannt ist. Schicht um Schicht hat Graubner seine fast monochromen Farblandschaften auf über Leinwand gespannten Schaumstoff aufgetragen. Abstrakt ist auch seine Schülerin geblieben, aber doch sehr anders. Die Kunst aus der Sprühpistole ist Grosses Signatur - wer vorschnell den Vergleich mit Streetart zieht, liegt falsch. Denn um Codes der Graffiti-Szene geht es bei ihr nicht, sondern um Malerei pur.

Inspiration Fußball

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"Deep Purple in Verbindung mit Weiß" ist die Lieblingsfarbe von Katharina Grosse. Es lohnt sich nach dieser Kombination im oder am Hamburger Bahnhof zu suchen.

(Foto: Jens Ziehe)

Wann hat sie die Sprühpistole gegen den Pinsel eingetauscht? "Nie. Ich verwende alles, was für mein Vorhaben Sinn macht. Zum Spray bin ich Mitte der Neunzigerjahre durch Zufall gekommen. Ich lebte in Marseille und ein Freund ließ mich eine Airbrush-Pistole ausprobieren. Der Anblick der kleinen über die Fläche verteilten Sprühpunkte ließ mich nicht mehr los." Mit dem Pinsel kann sie nur dort malen, wo sie gerade steht, "aber mit der Sprühpistole komme ich in die Richtung, in die ich zeige, fünf Meter weiter." Die Inspiration für ihre Technik hat sie aus dem Fußball: "Das Zusammenspiel, Vorausahnung von Beobachtung, telepathisches Vertrauen, in Entfernungen denken, den Raum ausdehnen, ist dort am besten zu beobachten."

Grosse überschreitet die Grenzen der Leinwand. Wenn sie auf Leinwände sprüht, dann sind auch diese im Arbeitsprozess für sie nicht begrenzt, die Spuren des Übersprühens finden sich auf den Wänden ihres Ateliers. Ihre erste direkt auf Architektur gesprühte Arbeit entstand 1998 für die Kunsthalle in Bern - eine grüne Ecke. Bis heute hat sie Museen in Prag, Baltimore, Biennalen in Sydney oder Venedig, aber auch verlassene Häuser am Strand von New York mit ihren ausufernden Kunstwerken bespielt.

Wie kam die Idee, vorgegebene Formate zu sprengen und über die Leinwand hinaus in den Raum zu gehen? "Als Kind habe ich immer ein Spiel mit mir gespielt, nämlich, dass ich alle Schatten an der Wand auslöschen musste, bevor ich morgens aufstand. Ich erfand einen unsichtbaren Pinsel, um die Schatten auf der Fensterbank, der Lampe oder was auch immer wegzumalen. Es wurde zur Besessenheit. Die Welt zu betrachten, ist für mich immer damit verbunden gewesen, gleichzeitig etwas mit ihr oder auf ihr zu tun."

Erlebbare Kunst für alle

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Die Künstlerin in ihrem Atelier am Modell des Hamburger Bahnhofs.

(Foto: Robert Schittko)

Natürlich hat sie auch Kritiker. Denen ist ihre Malerei nicht clean und cool genug, sondern zu laut und schrill. Dabei tritt die Künstlerin selbst zurückhaltend auf. Warum darf aktuelle Kunst eigentlich nicht viele Menschen begeistern? Gerade in der Malerei ist alles, was wir sehen, jedes Mal anders und neu. Eine Farbe, die sie nicht benutzt, ist Schwarz. "Es trennt die Farben voneinander, blockiert Übergänge. Ich mag es nicht." Farbe hat für sie die Fähigkeit, Bekanntes in einen neuen Kontext zu setzen. "Ist eine blaue Zitrone noch eine Zitrone? Mein Umgang mit Farbe bringt keine festgelegten Bedeutungen hervor und erfüllt keine bestimmte Funktion", erklärt sie.

Zurück nach Berlin ins Museum: Das Ergebnis hier ist strahlend schön. Der Farbfluss strömt aus der Hintertür des Gebäudes hinaus auf den kleinen Platz dahinter, über die Straße, umschlingt einen kleinen Park und erhebt sich schließlich an der Fassade der knapp 300 Meter langen Rieck-Hallen. Die Hallen beherbergen die Flick-Collection, die zuletzt mit dem Abzug aus der Hauptstadt deutschlandweit für Schlagzeilen sorgte. Da versäumt wurde, das Hallengelände von einem privaten Investor zurückzukaufen, verliert die Stadt im nächsten Jahr die hochkarätige Sammlung. Mit ihrer Malerei an den Außenwänden des Gebäudes liefert Grosse jetzt eine Hommage an die Gegenwartskunst.

Aber - alles wird verschwinden. Grosses ausufernde Kunst hat ihre Zeit. Übrigens sind sämtliche Materialien der Schau voll recycelbar, die Farbe im Außenraum ist umweltfreundlich. Aus den Styroporelementen können Baudämmstoffe werden und der bemalte Asphalt ist abnehmbar - er liegt auf einem Vliesstoff. Einzig der übersprühte Bronzestein am Anfang des Kunstwerks wird vermutlich übrig bleiben. In wessen Besitz der wohl übergeht und welchen Raum er neu bespielen wird?

Die Ausstellung "It Wasn't Us" ist bis zum 10. Januar 2021 im Hamburger Bahnhof zu sehen, Invalidenstraße 50-51, 10557 Berlin. Aktuell sind für den Besuch Zeitfenster-Tickets nötig.

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