Ein fast ausgestorbener Beruf Laternenanzünder lässt Brest leuchten
22.08.2021, 19:10 Uhr
Jeden Abend zündet Viktor Kirisjuk in Brest die mit Petroleum betriebenen Straßenlaternen an.
(Foto: dpa)
Aus Belarus bestimmen Nachrichten über das Vorgehen von Machthaber Lukaschenko gegen die Opposition die Schlagzeilen. Doch es gibt auch andere Geschichten aus dem Land. Zum Beispiel die über einen Mann, der wie aus der Zeit gefallen wirkt.
Viktor Kirisjuks Arbeitstag beginnt im Sommer, wenn die meisten lange Feierabend haben: am Abend. Sein Beruf ist eigentlich dank der Elektrifizierung längst ausgestorben. In der Stadt Brest im Westen von Belarus arbeitet der 64-Jährige dennoch seit mehr als zehn Jahren als Laternenanzünder. Seine Arbeitszeiten richten sich nach dem Sonnenuntergang. Im Winter macht sich der schmächtige Mann nach dem Kaffee auf den Weg ins Stadtzentrum, im Sommer nach dem Abendessen.
Scharen von Touristen begleiten ihn bei seiner Arbeit. 17 Straßenlaternen in Brest an der Grenze zum EU-Land Polen werden nicht einfach per Knopfdruck zum Leuchten gebracht. Viktor Kirisjuk muss das Petroleum erst mit einem Feuerzeug entzünden. Dafür klettert er in historischer Uniform auf einer Leiter hinauf, öffnet die Lampe - und schon flackert eine kleine Flamme.
Im Grunde wäre die Arbeit schnell erledigt, wenn Kirisjuk an diesem Sommerabend nicht von etwa 30 Schaulustigen umgeben wäre. Die Tourismusbranche freut sich. Immer wieder bleibt er stehen und posiert für ein Foto. Der Laternenanzünder lächelt freundlich und beantwortet geduldig die vielen Fragen. Kirisjuk wird umlagert wie ein Star. Es soll angeblich Glück bringen, wenn man die Knöpfe seiner dunkelblauen Uniform berührt. Dann gehe ein Wunsch in Erfüllung, sagen die Menschen auf der Straße.
Über Politik redet niemand
An diesem Abend murmeln viele ihre Wünsche leise vor sich hin. Seine Knöpfe am Gewand hat er extra wegen des Ansturms auf ihn mit Draht verstärkt, damit sie nicht abfallen. "Vor der Corona-Pandemie kamen viele Menschen sogar aus Australien, Japan, Sri Lanka, Frankreich, England und allen ehemaligen Sowjetrepubliken extra nach Brest", sagt der gelernte Elektriker. "Es ist leichter zu sagen, wer nicht hierhergekommen ist als andersherum."
Vor 100 Jahren habe es in der Stadt den letzten Laternenanzünder gegeben. Zum 1000-jährigen Jubiläum der Stadt 2009 sei die Tradition wiederbelebt worden. Über Politik redet an diesem Abend niemand groß auf der Straße. Nicht über das teils gewaltsame Vorgehen von Machthaber Alexander Lukaschenko gegen die Massenproteste nach der weithin als gefälscht eingestuften Präsidentenwahl vor einem Jahr in Belarus. Oder die EU-Sanktionen gegen den autoritären Machtapparat. Doch es beschäftigt die Menschen. "Was denkt Deutschland über Belarus?", fragt Kirisjuk, ohne sich aber selbst über die politische Lage zu äußern.
Weit über Brest hinaus gekannt
Lokalmedien war es im Februar eine Schlagzeile wert, dass der Elektriker erstmals seit zehn Jahren ausgefallen war. Er reiste nach Minsk für Lukaschenkos Allbelarussische Volksversammlung mit handverlesenen und dem Machthaber ergebenen Vertretern. Der 64-Jährige recht erfreut darüber, wiegelte aber in einem Interview ab: "Ich bin kein Politiker. Ich bin ein Laternenanzünder! Ich bin nicht bereit, irgendwelche politische Entscheidungen zu treffen."
Kirisjuk ist mittlerweile eine Persönlichkeit weit über Brest hinaus. Selbst in Reiseführern wird er schon erwähnt. Den Job hat er damals in einem Auswahlverfahren bekommen - eine Arbeit, die auch in deutschen Städten bis ins 19. Jahrhundert und teils länger verbreitet war. Laut Bundesverband Straßenbeleuchtung gab es erst 1882 in Berlin die ersten 36 elektrisch betriebenen Laternen.
Warum ausgerechnet Kirisjuk die Stelle bekommen hat, weiß er nicht mehr genau. "Wahrscheinlich, weil ich aussehe wie ein Laternenanzünder, wie er im Archiv beschrieben wird", sagte er mal. "Nicht umsonst kommen die Leute manchmal auf mich zu und sagen: 'Du sieht aus wie aus einem Märchen oder aus dem 19. Jahrhundert.'"
Quelle: ntv.de, Christian Thiele, dpa