Psychotherapeut gibt Tipps "Stress generell zu verteufeln, wäre falsch"
21.12.2021, 18:40 Uhr
Ständiger Stress kann mental und körperlich krank machen.
(Foto: imago images/PhotoAlto)
Fast alle Menschen fühlen sich mal gestresst, das ist nichts Ungewöhnliches. Problematisch wird es dann, wenn der Stress zur alltäglichen Belastung wird. Das kann im schlimmsten Fall seelische und körperliche Beschwerden und Erkrankungen nach sich ziehen. Wie der bessere Umgang mit Stress gelingen kann, zeigt der Psychologe und Psychotherapeut Dr. Dietmar Ohm in seinem neuen Buch "Der kleine Anti-Stress-Coach". Im Interview mit ntv.de erklärt er, warum Menschen heute mehr unter Stress leiden als früher, welche Auswirkungen das häufig hat und was man akut sowie langfristig tun kann, um gelassener zu werden.
ntv.de: Warum haben Sie das Buch geschrieben?
Dr. Dietmar Ohm: Als Psychotherapeut habe ich die Erfahrung gesammelt, dass bei Problemen und Beschwerden von Patienten meist auch Stress eine Rolle spielt. Immer wenn Menschen in eine schwierige Lebenssituation geraten, sind sie auch unter innerer Anspannung und fühlen sich belastet. Diese Stressreaktion wirkt sich psychisch und auch körperlich über das vegetative Nervensystem aus. Es kommt bei einer dauernden Anspannung zu einer Vielzahl körperlicher und seelischer Beschwerden. Deswegen habe ich mich sehr dafür interessiert, was man gegen Stressbelastungen unternehmen kann und mich unter anderem mit Entspannungsverfahren beschäftigt. Befragungen von Krankenkassen zeigen außerdem, dass Stressbelastungen immer mehr zunehmen. Ungefähr jeder Zweite fühlt sich so stark von Stress belastet, dass ein Burnout droht.
Woran liegt es, dass sich Menschen heute mehr gestresst fühlen?
Das hängt nicht nur mit der Weihnachtszeit zusammen, die jedes Jahr wieder "überraschend" kommt. Der saisonale Stress ist das eine, aber viele Menschen leiden das ganze Jahr über unter Stress. Eine Ursache dafür ist die zunehmende Belastung im beruflichen Bereich, unter anderem bedingt durch Personalmangel. Außerdem wird heute mehr Flexibilität von den Arbeitnehmern gefordert. Die Abwesenheit zuhause führt häufig zu Spannungen in der Familie und damit zu Stress. Bedenklich ist auch die zunehmende Reiz- und Informationsüberflutung durch die Medien. Weiterhin führen ständige Erreichbarkeit durch Handys und soziale Netzwerke bei vielen Menschen zu vermehrtem Stress.
Sehen Sie in Ihrer Praxis auch mehr Menschen, die aufgrund der Corona-Pandemie gestresst sind?
Auf jeden Fall. Zum einen ist eine ständige Bedrohungslage da. Viele kennen Menschen in ihrem Umfeld, die an Corona erkrankt oder gar gestorben sind. Weiterhin ergeben sich durch die Corona-Maßnahmen auch neue Erschwernisse. Vieles wird komplizierter oder sogar unmöglich und das sorgt natürlich für Stress. Wenn beispielsweise Fitnessstudios und Sportanlagen geschlossen werden, kann die aufgebaute innere Anspannung nicht mehr durch körperliche Aktivität sinnvoll abgebaut werden. Außerdem wurde der mitmenschliche Rückhalt, der stressmindernd wirkt, eingeschränkt.
Ist Stress prinzipiell etwas Schlechtes?
Stress generell zu verteufeln, wäre falsch. Den gut gemeinten Rat "Führen Sie ein stressfreies Leben", den Ärzte oft ihren Patienten geben, die schwere Krankheiten durchgemacht haben, sollte man nicht zu ernst nehmen. Denn das wäre ein schlechter Rat, weil der Mensch auch Stress und Herausforderungen braucht.
Wann ist der Stress positiv?
Der gute Stress, Eustress genannt, zeichnet sich dadurch aus, dass es einen harmonischen Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung gibt - und zwar den gesamten Tag über. Wir brauchen die Herausforderungen genauso wie die Erholung.
Welche Herausforderungen meinen Sie?
Im Grunde können das alle Herausforderungen sein. Dazu zählt zum Beispiel Sport. Die körperliche Herausforderung ist zwar Stress, aber hilft auch dabei, Stress abzubauen. Weiterhin kann sogar ein Konfliktgespräch dabei helfen, das Stresslevel zu mindern, weil darüber vielleicht ein wichtiges Problem endlich gelöst wird. Auch wenn man sich der besten Freundin anvertraut, kann das für Erleichterung sorgen. Freudige Ereignisse wie ein Lottogewinn führen zu starken positiven Emotionen. Diese Art von Stress ist natürlich nicht schädlich.
Und wie äußert sich der negative Distress?

Der Psychologe und Psychotherapeut Dr. Dietmar Ohm hat eine eigene Praxis in Lübeck. Seine Schwerpunkte sind Gesundheitspsychologie und Entspannungsverfahren.
Hier fehlen die Entspannungsphasen. Das führt zu einer Art Daueranspannung. Belastungen kommen aber nicht nur von außen, wie zum Beispiel von der Arbeit. Ganz wichtig sind auch die inneren Stressoren. Diese können zu negativem Stress führen. Glaubenssätze wie "Ich muss die Erwartungen der anderen immer erfüllen" oder "Ich muss immer alles perfekt machen" lassen nicht nach, sondern sind ständig wirksam. So kommt man gar nicht mehr zur Ruhe, weil man ständig unter Druck steht. Der Distress kann auf Dauer zu seelischen und körperlichen Krankheiten führen. Besonders schlimm wird es, wenn in dieser Situation noch eine zweite Stressachse aktiviert wird. Das geschieht bei gleichzeitigen negativen Emotionen wie Ärger, Enttäuschung und Kontrollverlust.
Wie sehen diese negativen Auswirkungen dann konkret aus?
Eine starke Stressbelastung kann dazu führen, dass das vegetative Nervensystem so gereizt wird, dass beispielsweise schneller Puls und Kreislaufbeschwerden auftreten. Viele Menschen werden sich dessen irgendwann bewusst und reagieren dann mit Angst. Sie denken bei Symptomen wie Herzklopfen teilweise gleich an einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Oft wird der Körper ganz genau beobachtet und diese ängstliche Selbstbeobachtung löst Stress aus. Es kann dann sogar zu Panikattacken kommen. Aber auch Magen- und Darmbeschwerden sowie Muskelverspannungen und chronische Schmerzen sind oft Folgen von Distress.
Welche Methoden helfen bei akutem Stress?
Eine einfache Sofortmaßnahme sind Atemübungen. Das heißt, ich setze mich entspannt hin und zähle während der Ausatmung langsam von eins bis fünf. Durch das Zählen in der Ausatmungsphase vertiefen und unterstützen wir die Ausatmung. Das wirkt schon etwas entspannend. Eine andere Möglichkeit sind einfache Achtsamkeitsübungen. Das bedeutet, dass wir versuchen, aus den ständigen Grübelketten, die uns in die Vergangenheit und Zukunft ziehen, auszubrechen. Mit Humor und Lachen können wir ebenso den Stress im Akutfall lindern, indem wir uns zum Beispiel an etwas Lustiges erinnern oder ein lustiges Video anschauen. Überraschend wirksam ist es, bewusst für etwa eine Minute lang zu lächeln. Das wirkt positiv auf die Stimmung, verringert Stress.
Was kann man langfristig tun, um gelassener zu werden?
Wichtig ist die regelmäßige körperliche Aktivität, am besten Ausdauersport. Beim Sport werden aufgebaute Stressbelastungen sinnvoll abgebaut. Ein anderer wichtiger Schutzfaktor ist guter menschlicher Rückhalt: Beziehungen und gute soziale Vernetzung wirken stressreduzierend und helfen dabei, mit Stressbelastungen besser fertig zu werden. Man sollte also daran arbeiten, seine sozialen Kompetenzen zu verbessern. Viele Belastungen kommen im Übrigen dadurch zustande, weil Menschen sich schwer damit tun, Nein zu sagen. Deswegen ist es wichtig, Grenzen zu setzen und sich nicht immer zu viel aufzuladen. Man kann außerdem ein Entspannungstraining lernen und praktizieren - dazu gehören zum Beispiel Autogenes Training, die progressive Relaxation und Meditation sowie Yoga. Wenn wir so etwas regelmäßig in unseren Alltag integrieren, können wir dem Stress langfristig entgegen wirken.
Wann sollte man professionelle Hilfe annehmen?
Es ist immer gut, frühzeitig auf die Warnzeichen zu achten, die bei Stressbelastungen auftreten. Dazu gehören zum Beispiel Vergesslichkeit, Konzentrationsstörungen und negative Gedanken in Bezug auf sich selbst. Auch langanhaltende negative Gefühle wie Angst, Traurigkeit, Wut und Gereiztheit sind ein weiteres Warnsignal. Oft wird versucht, das zunehmende Stresslevel mit Alkohol oder anderen Drogen herunterzuschrauben. Wenn man merkt, dass man täglich trinkt oder kifft, wäre das natürlich ein starkes Warnsignal. Weiterhin sollte man professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, wenn man dauerhaft unter Bluthochdruck, Herzklopfen, muskulären Verspannungen, Kopfschmerzen, Magenbeschwerden und anderen körperlichen Symptomen leidet, die keine körperliche Ursache haben. Ist das Problem noch nicht allzu gravierend, können auch die Tipps und Übungen im Ratgeber helfen, eine Kursänderung zu erreichen. Wenn man aber feststellt, dass man mit eigenen Mitteln nicht mehr schafft, den Stress zu bewältigen oder bereits ein Burnout diagnostiziert wurde, sollte man sich definitiv professionelle Hilfe holen.
Mit Dr. Dietmar Ohm sprach Isabel Michael
Quelle: ntv.de