Kenntnis "bis ins Detail" Anklage gegen KZ-Sekretärin verlesen
19.10.2021, 15:22 Uhr
Von Beginn an verläuft das Verfahren gegen eine ehemalige KZ-Schreibkraft turbulent. Im zweiten Anlauf verliest die Staatsanwaltschaft nun die Anklageschrift gegen die 96-Jährige. Ihrer Auffassung zufolge ist die Angeklagte mehr als nur eine Mitwisserin der Gräueltaten.
Im Prozess gegen eine 96-jährige frühere Sekretärin des NS-Konzentrationslagers Stutthof ist im schleswig-holsteinischen Itzehoe im zweiten Anlauf die Anklage verlesen worden. Der Angeklagten wird Beihilfe zu Mord und Beihilfe zu versuchtem Mord in mehr als 11.000 Fällen vorgeworfen, weil sie zwischen 1943 und 1945 in der Kommandantur des Lagers tätig war. Dem Prozessauftakt vor knapp drei Wochen entzog sie sich durch Flucht aus ihrem Altersheim.
Die Beschuldigte Irmgard F. habe aufgrund ihrer Tätigkeit für den Kommandanten des NS-Lagers bei Danzig Kenntnis über alle Vorgänge gehabt und sei unter anderem auch "bis ins Detail" über alle dort systematisch praktizierten Mordmethoden informiert gewesen, sagte Staatsanwältin Maxi Wantzen bei der Verlesung der Anklageschrift. Sie habe durch ihre Arbeit "die reibungslose Funktionsfähigkeit des Lagers" gesichert.
Angeklagte schweigt
Die Beschuldigte, die in einem Krankentransportstuhl in den Verhandlungssaal gebracht und von einer Mitarbeiterin des gerichtsmedizinischen Diensts begleitet wurde, äußerte sich nicht zu den Vorwürfen. "Frau F. wird sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht äußern, sie wird auch keine Fragen beantworten", erklärte ihr Verteidiger Wolf Molkentien vor Gericht.
Er verlas zugleich ein Auftaktstatement der Verteidigung, in dem er unter anderem infrage stellte, ob die Frau allein aufgrund ihrer Tätigkeit tatsächlich umfassend über das Mordgeschehen im Bilde gewesen sei. Aus Sicht der Verteidigung sei diese Frage noch offen, sagte er.
Zum eigentlichen Prozessbeginn am 30. September war die Angeklagte nicht erschienen. Sie war nach Angaben des Gerichts untergetaucht. Stunden später wurde die Frau von der Polizei in Hamburg festgenommen. Das Gericht erließ einen Haftbefehl. Nach fünf Tagen wurde die 96-Jährige unter Anordnung von Sicherungsmaßnahmen aus der Haft entlassen,
Lebensfeindliche Bedingungen im Lager
In Stutthof hatte die SS im Zweiten Weltkrieg mehr als 100.000 Menschen unter erbärmlichen Bedingungen gefangen gehalten, darunter viele Juden. Etwa 65.000 Gefangene starben nach Erkenntnissen von Historikern. Das Lager war berüchtigt für die absichtlich völlig unzureichende Versorgung der Gefangenen, die extrem lebensfeindliche Bedingungen zur Folge hatte.
Die meisten Gefangenen starben an Krankheiten und Entkräftung, dazu kamen Folter sowie unmenschliche Zwangs- und Sklavenarbeit. Es gab jedoch auch eine Gaskammer und eine getarnte Genickschussanlage, in der Gefangene gezielt massenhaft getötet wurden.
Durch ihre zeitweise Flucht vereitelte die Angeklagte die Verlesung der Anklageschrift zum Auftakttermin, dies wurde nun nachgeholt. Die gegen die Beschuldigte verhängte Untersuchungshaft hob das Gericht nach einigen Tagen gegen nicht näher genannte "Sicherungsmaßnahmen" auf. Es sei sichergestellt, dass sie zum Prozess erscheine. Für das Verfahren sind bereits Verhandlungstermine bis weit ins kommende Jahr geplant.
Quelle: ntv.de, mdi/AFP/dpa