Zwischen Ratzdorf und ZiltendorfAuf den Spuren der Oderflut

Im Juli 1997 regnet es ohne Unterlass. Im Osten Brandenburgs erreichen Oder und Neiße Pegelstände, wie sie die Menschen nie erlebt haben. Auch zwanzig Jahre danach sind die Erinnerungen präsent.
Die Julisonne meint es gut in diesem Jahr. Glücklicherweise weht ein leichter Wind am Ufer der Oder, dort, wo sie nur wenige Hundert Meter weiter mit der Neiße zusammenfließt. Die Anzeige am Ratzdorfer Pegelhäuschen zeigt 2,20 Meter. Vor 20 Jahren lag der Pegel der Oder um diese Zeit bei 6,89 Meter. Vom Sockel aus Pflastersteinen, auf dem das Pegelhäuschen steht, ist nicht mehr viel zu sehen. In Ratzdorf und überall an Oder und Neiße herrscht Ausnahmezustand. Das Pegelhäuschen wird zum Symbol für die Katastrophe, erscheint in den Abendnachrichten und auf den Titelseiten von Zeitungen in ganz Deutschland.
Aus Polen kommen schon seit Tagen beunruhigende Meldungen, hier erreicht die Hochwasserwelle deutsches Gebiet. Kein Deich schützt Ratzdorf, das Wasser strömt einfach in den Ort. Die ehrenamtliche Bürgermeisterin Ute Petzel sorgt seit Tagen dafür, dass Sandsäcke gestapelt werden. Doch aufhalten lässt sich das Wasser nicht. Die Ratzdorfer bekommen kein Auge mehr zu, um acht Zentimeter in der Stunde steigt das Wasser. Schließlich bleibt Petzel nichts anderes übrig, als Alarm auszulösen. Nachts um drei schrillt die Sirene durch den Ort, die 355 Einwohner sollen in Sicherheit gebracht werden. "Am Anfang waren wir wirklich allein und mussten uns selbst helfen", sagt Petzel zwanzig Jahre später über diese Tage.
Den ersten eintreffenden Helfern müssen sie sagen, wo die Sandsäcke überhaupt hingehören. Später rückt die Bundeswehr an und noch später kommen Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe und Umweltminister Matthias Platzeck, der für seinen Einsatz als "Deichgraf" gefeiert wird. Sie bekommen die Sturheit der Menschen hier zu spüren, niemand will das Dorf verlassen. Tatsächlich harren die meisten Ratzdorfer während der gesamten Katastrophe in ihrem Ort aus. Gemeinsam überstehen sie eine Flut, wie sie das Dorf ein ganzes Jahrhundert lang nicht erlebt hatte.
"So ein kleiner Ort ist wie eine Familie"
Das Haus der Familie Budras steht nur einen Steinwurf vom Ufer entfernt. Erst ein Jahr zuvor ist es fertig geworden, gerade vier Monate wohnt die Familie in den neuen vier Wänden. Nun steht das Wasser im ganzen Haus, das nur noch über einen Steg zu erreichen ist. So wird es wochenlang bleiben.
An der gelben Fassade zeugen noch heute Spuren davon, wie hoch das Wasser vor zwanzig Jahren stand. Inzwischen liegt das Budras-Haus hinter dem neuen Ratzdorfer Deich. Als das Wasser abgeflossen war, wurde der Ruf nach mehr Schutz laut, doch es dauerte noch Jahre, bis er endlich gebaut wurde.
Die Dorfgemeinschaft, die während des Hochwassers so eng zusammengestanden hatte, drohte an der Entscheidung über den Deichbau zu zerbrechen. Einige wollten zwar mehr Sicherheit, aber nicht, dass der Schutzdeich auf ihren Grundstücken steht. 2005 wurde die letzte Deichlücke schließlich geschlossen.
Seitdem ist es unter den Ratzdorfern wieder friedlicher geworden. "So ein kleiner Ort ist wie eine Familie, jeder kennt jeden beim Namen", sagt Petzel, die immer noch Bürgermeisterin ist. Im vergangenen Jahr feierte der Ort sein 700-jähriges Bestehen. Vielleicht muss man wie Petzel hier geboren sein, um dem Ort die Treue zu halten.
Michael Jackson spendet 32.000 D-Mark
Ratzdorf liegt so nah an der Grenze, dass sich manche Handys automatisch in das Netz eines polnischen Mobilfunkanbieters einwählen. Einen Kiosk oder Supermarkt gibt es nicht. Zum Einkaufen müssen die Ratzdorfer ins Auto steigen - oder sich auf ihr Mofa setzen. Zwei, drei Gaststätten und eine Kegelbahn. Nur zwei Mal die Stunde fährt ein Bus. Jeden zweiten Donnerstag im Monat macht eine Fahrbibliothek in dem Dorf halt. Das war's. Und trotzdem steht so gut wie kein Haus leer. "Wir können von Glück reden, dass immer wieder auch junge Menschen nach Ratzdorf kommen und alte Häuser wieder flott herrichten", sagt Bürgermeisterin Petzel.
Der Ort hat zwar keine Schule und keinen Kindergarten, aber einen Spielplatz, den es ohne die Oderflut nicht geben würde. An einer Straßenkreuzung gibt es eigens einen Hinweis auf den "Michael-Jackson-Spielplatz". Der "King of Pop" persönlich hatte Geld aus einem Konzerterlös gespendet. Damit sollte ein durch das Hochwasser geschädigter Kindergarten unterstützt werden. Weil es den nicht gab, fand Petzel eine andere Verwendung für die 32.000 D-Mark aus den USA.
Gleich neben dem Waldsportplatz steht deswegen seit 1998 der "Michael-Jackson-Spielplatz." Im Sommer 2017 scheint es der lebendigste Teil von Ratzdorf zu sein. Eine Schulklasse besetzt Sandkasten, Kletterhaus und Seilrutsche für eine Schatzsuche, neben einer der überdachten Sitzgelegenheiten raucht ein Grill. Ein paar Meter weiter rasten ein paar Radler.
Durch die Deichlücke strömen die Wassermassen
Seit der Deich geschlossen ist, führt auf seiner Krone der Oder-Neiße-Radweg entlang. In einer guten Stunde sind die knapp 25 Kilometer mit dem Fahrrad bis nach Aurith zu schaffen. Aurith und die Ernst-Thälmann-Siedlung sind im Juli 1997 zwar durch einen Deich geschützt, aber auch der gibt irgendwann nach. Am 24. Juli bricht ein Deich einige Kilometer südlich von Aurith. Durch die 200 Meter lange Lücke strömen die Wassermassen in die Ziltendorfer Niederung. In den Häusern steht das Wasser bis unter die Decke.
Nur das Bauernstübchen gleich hinter dem Oderdeich bleibt damals verschont. Die Gaststätte liegt eineinhalb Meter höher als das Dorf, drei Meter höher als die Thälmann-Siedlung und wird zur Insel. Inhaberin Silke Thurian wird per Boot versorgt und gehört am Ende zu den wenigen in der Gegend, die keine Hochwasserschäden zu beklagen haben.
Heute erinnert nur wenige Meter neben der Gaststätte eine Gedenktafel an das Oderhochwasser. Die Radfahrer, die auf der Strecke von Eisenhüttenstadt nach Frankfurt/Oder hier Pause machen, erfahren aber auch etwas über die lange Geschichte der Flößer auf der Oder. Das ist 2017 mindestens genauso spannend. Die meisten zieht es aber schnell zu alkoholfreiem Hefeweizen und deftiger Hausmannskost. Die Kartoffelsuppe mit Würstchen gibt es für 4,50 Euro.
Viele Häuser waren unbewohnbar
Doch Thurian ist die Ausnahme. Die meisten Ziltendorfer haben vor zwanzig Jahren alles verloren. "Das damals niemand zu Schaden gekommen ist, dafür sind die Leute hier schon sehr dankbar", sagt Elisabeth Rosenfeld. Die Pfarrerin kam 2013 gemeinsam mit ihrem Mann nach Ziltendorf. "Besonders gottesfürchtig sind die Dorfbewohner deswegen aber nicht geworden. Diejenigen, die sich schon vor der Jahrhundertflut für die Kirche interessiert haben, tun das auch heute noch", sagt die 33-Jährige. Zum Gedenkgottesdienst sind trotzdem viele gekommen. Mit der zentralen Gedenkveranstaltung in Eisenhüttenstadt konnten sie nichts anfangen. Die Politiker, die dort sprechen, haben die Flut selbst nicht erlebt, lautete der Vorwurf.
Zusammengehalten haben die Menschen hier schon immer. Ganz besonders in der Thälmann-Siedlung. In dem kleinen abgeschlossenen Dorf gleicht heute jedes Haus dem anderen. Die meisten sind mit Hilfe von Spenden nach der Flut saniert worden. Als das Wasser abgeflossen war und die Bewohner der Siedlung zurückkehren konnten, erkannten sie ihr Dorf kaum wieder. Viele Häuser waren unbewohnbar, über dem Ort lag beißender Gestank. Kurzzeitig wurde sogar diskutiert, die Orte in der Ziltendorfer Niederung ganz aufzugeben. Dazu ist es nicht gekommen. Heute erinnert an einem Haus am Ortsausgang eine kleine Metalltafel an das Hochwasser. Es ist auf der Höhe der Regenrinne angebracht.
Auch wenn die Jahrhundertflut inzwischen zwanzig Jahre her ist. Immer, wenn die Oder Hochwasser hat, kommen die Erinnerungen hoch, das spürt Rosenfeld auch heute noch. "Wenn man so etwas einmal erlebt hat, dann vergisst man das nicht."