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"Als hätte mein Hirn geduscht" Buchklub liest 28 Jahre an einem Joyce-Roman

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Der Ire James Joyce ist einer der wichtigsten Vertreter der literarischen Moderne.

Der Ire James Joyce ist einer der wichtigsten Vertreter der literarischen Moderne.

(Foto: imago images/UIG)

17 Jahre lang schrieb James Joyce an seinen Roman "Finnegans Wake", 28 Jahre brauchte eine Lesegruppe aus Kalifornien, um sich durch den komplizierten Roman zu arbeiten. Trotzdem gibt es für den Lesekreis "kein nächstes Buch".

Der Roman "Finnegans Wake" von James Joyce zählt nicht nur zu den berühmtesten Texten der Literaturgeschichte, sondern auch zu den schwierigsten. 1995 gründete Gerry Fialka im kalifornischen Venice einen Buchklub mit nur einem einzigen Ziel: "Finnegans Wake" von vorne bis hinten durchzulesen. Jetzt, 28 Jahre später, haben die Teilnehmenden es geschafft, wie der "Guardian" berichtet.

Die Zeitspanne "könnte durchaus ein Rekord sein", meint Sam Slote, James-Joyce-Experte am Trinity College in Dublin. Seine eigene wöchentliche "Wake"-Gruppe aus etwa einem Dutzend Joyce-Forschenden ist auf dem besten Weg, den Text in zügigen 15 Jahren zu lesen.

An den monatlichen Treffen des kalifornischen Klubs, die zuerst in einer öffentlichen Bibliothek und dann per Videochat stattfanden, nahmen zwischen 10 und 30 Personen teil. Zu Beginn lasen sie pro Sitzung gemeinsam zwei Seiten, später nur noch eine. Mit 28 Jahren hat die Gruppe für die Lektüre von "Finnegans Wake" nun länger gebracht als Joyce für den Schreibprozess: Der Autor arbeitete 17 Jahre, um die je nach Ausgabe zwischen 600 und 700 Seiten des experimentellen Textes zu vollenden. Eine vierjährige Schreibblockade ist da schon eingerechnet.

Fialka, inzwischen 70 Jahre alt, berichtet über seine Leseerfahrung: "Ich will nicht lügen, es war nicht so, als hätte ich Gott gesehen. (…) Es war keine große Sache." Ein anderer Teilnehmer bekennt hingegen, die Lektüre sei "die erfüllendste Sache in meinem Leben" gewesen: "Es fühlt sich wirklich so an, als hätte mein Gehirn gerade eine Dusche genommen. Es ist so erfrischend."

Niemand versteht das Buch

Der 1939 veröffentlichte Roman "Finnegans Wake" gilt als äußerst kompliziert. Auch Fachwissen helfe nicht weiter, so Joyce-Experte Slote. "Man muss sich damit abfinden, dass niemand das Buch wirklich versteht, und da kommt die Idee des gemeinschaftlichen Lesens ins Spiel", sagte er. Die Schwierigkeit des Romans mache die Lektüre zu einer Art demokratischer Erfahrung. Die Teamarbeit könne bei der Entschlüsselung von Joyces zahlreichen Anspielungen helfen, die von Verweisen auf die irische Politik des 19. Jahrhunderts über französische Literatur und populäre Trinklieder bis hin zum Ägyptischen Totenbuch reichen. Fialka zufolge sei seine Lesegruppe in diesem Fall "mehr ein Performance-Kunstwerk als ein Buchklub".

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Sprachlich ist der Text eine Mischung aus neu erfundenen Wörtern, Wortspielen und Anspielungen, die sich auf etwa 80 verschiedene Sprachen beziehen. Ein Teilnehmer der Venice-Gruppe meint, es handele sich um "Dinge, die wie Tippfehler aussehen".

Der kalifornische Buchclub ist nicht die einzige Gruppe, die sich mit "Finnegans Wake" beschäftigt. Laut einer Liste soll es mindestens 52 aktive Lesekreise zu dem Joyce-Werk geben. In Zürich beispielsweise hat sich 1984 ein Klub gegründet, der das Buch in fast 40 Jahren bereits dreimal komplett gelesen hat und aktuell zum vierten Mal dabei ist. Die erste Lesung dauerte zügige elf Jahre.

Und wie geht es jetzt mit dem Buchklub in Venice weiter? Fialka betont, es sei falsch zu sagen, dass sie das Buch "beendet" hätten. "Wir haben nicht aufgehört. Der letzte Satz des Buches endet mitten im Satz und dann geht es am Anfang des Buches weiter. Es ist zyklisch. Es endet nie." Noch im November wollen die Mitglieder wieder von vorne beginnen. "Es gibt kein nächstes Buch", verriet Fialka dem "Guardian": "Wir lesen nur ein Buch. Für immer."

Quelle: ntv.de, kse

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