Psychologin über Impfstau "Die Leute sollten nicht so weit fahren müssen"
02.12.2021, 16:41 Uhr
Die Psychologin Mirjam Jenny - hier im Gespräch mit ntv-Moderatorin Nele Balgo - hat zusammen mit Dirk Brockmann und seinem Forschungsteam an der Humboldt-Universität Berlin die neue Studie zur Verbreitung der Infektionen unter Ungeimpften und Geimpften durchgeführt.
In 80 bis 90 Prozent der Infektionsfälle sind Ungeimpfte beteiligt - das hat eine aktuelle Studie ergeben. Einer der Autorinnen zufolge muss daher die Impfquote rasch erhöht werden. Doch die Hürden seien für viele Menschen noch immer viel zu hoch, erklärt die Psychologin Mirjam Jenny im Interview mit ntv.
ntv: Sie haben in einer Studie berechnet, wie hoch der Anteil der Geimpften und der Anteil der Ungeimpften an den Infektionen ist. Was haben Sie das herausgefunden?
Mirjam Jenny: Das Wichtigste, was wir herausgefunden haben, ist, dass etwa acht bis neun von zehn Ansteckungen mindestens eine ungeimpfte Person betreffen.
Können Sie das genauer erklären?
Was wir uns hier anschauen, ist Folgendes: Stellen wir uns 100 Personen vor. Da gibt es natürlich die Möglichkeit, dass man ungeimpft ist oder geimpft. Wenn jetzt 100 Leute angesteckt werden, dann ist es bei 38 dieser 100 Fälle so, dass ein Ungeimpfter einen Ungeimpften angesteckt hat. Nun können Ungeimpfte natürlich auch Geimpfte anstecken. Das ist bei etwa 29 von diesen 100 Fällen der Fall. Dann können natürlich auch Geimpfte ins Spiel kommen. In 17 dieser 100 Fälle stecken Geimpfte Ungeimpfte an und in 16 dieser Fälle steckt ein Geimpfter in der Tat sogar auch einen Geimpften an. Aber in den allermeisten Fällen, also 80 bis 90 von 100 Fällen, ist es so, dass mindestens ein Ungeimpfter dabei ist.
Was leiten Sie daraus ab für die Bedeutung der Impfungen?
Es zeigt, dass die Impfungen einen sehr hohen Schutz bieten gegen Erkrankung, besonders gegen schwere Erkrankung und Krankenhausaufenthalt. Es kann aber trotzdem sein, dass man sich als Geimpfter ansteckt und es gar nicht bemerkt, dass man andere Leute ansteckt. Das ist ja auch ein Grund, weshalb wir beispielsweise weiterhin alle Masken tragen, auch wenn wir einmal oder gar zweimal geimpft sind.
Wie sollte man weiter vorgehen bei den Impfungen?
Wichtig ist, dass sich natürlich möglichst alle impfen lassen. Gerade jetzt ist es ja so, dass bei vielen Menschen, gerade bei den Älteren, die früh geimpft wurden, die zweite Impfung schon länger her ist, sechs Monate, vielleicht sogar länger. Und da ist es ganz, ganz wichtig, dass man sich boostern lässt.
Wenn man nur Einschränkungen für Ungeimpfte beschließt, was würde das für eine Auswirkung auf das weitere Infektionsgeschehen haben? Auch dazu haben Sie eine Untersuchung gemacht.
Wir haben uns angeschaut, wie sich Ungeimpfte und Geimpfte auf den R-Wert auswirken, also darauf, wie viele Personen von jemandem, der infiziert ist, angesteckt werden. Wenn man jetzt nur die Kontakte der Ungeimpften um die Hälfte reduzieren würde, dann würde der R-Wert in der Tat unter 1 fallen. Dann würden auch die Ungeimpften natürlich einen viel kleineren Anteil der Infektionen ausmachen, weil sie sich ja nur noch mit der Hälfte der Leute treffen. Eine infizierte Person würde dann im Durchschnitt weniger als eine andere anstecken und dadurch würde die Pandemie auch zurückgehen.
Zu Ihren Schwerpunkten gehört auch die Risikokommunikation. Es sind immer noch Millionen Menschen ungeimpft und weiterhin skeptisch gegenüber einer Impfung. Was hat die Regierung falsch gemacht?
Was in den letzten Monaten sicher nicht geholfen hat, das war der Wahlkampf. Das haben auch viele kommen sehen. Ungünstig ist es, wenn unterschiedliche einflussreiche Leute - Leute in den Medien, Politiker und Politikerinnen - unterschiedliche Dinge sagen. Das ist dann verwirrend. Was mich immer so ein bisschen wundert, ist, dass ich nicht überall Impfbusse sehe. Die Leute sollten nicht weit fahren müssen, auf keinen Fall. Dazu gibt es auch Studien: Wenn man den Leuten persönliche Briefe schickt, SMS schickt mit einem Termin - "Hier kannst du dich impfen lassen, das ist nicht weit weg, du hast einen Termin, am, ich sage mal, 4. Dezember um 15 Uhr.'"- so etwas kann sehr gut funktionieren.
Die Gruppe der Ungeimpften ist ja sehr divers. Wie müsste man da individuell auf die verschiedenen Gruppen eingehen?
Ein wichtiger Punkt ist auch Sprache. Ein Großteil der Informationen, die es gibt, ist auf Deutsch. Die Informationen müssten in mehreren Sprachen, in Bildsprachen, kommen und dann auch an die Orte, an denen sich die Leute auch aufhalten. Dann gibt es diejenigen, die Fragen haben, die wollen viele Infos. Die haben sie vielleicht noch nicht gefunden oder vielleicht war das ein bisschen zu komplex. Die wünschen sich vielleicht ein 1:1-Gespräch, die Möglichkeit gibt es ja auch, das wurde ja auch gemacht teilweise. Das wurde beispielsweise auch in Großbritannien gemacht. Diese Gebiete haben tendenziell, wenn das in größerem Maße gemacht wurde, auch eine höhere Impfquote.
Es werden jetzt strengere Maßnahmen beschlossen. Wie muss das an die Öffentlichkeit transportiert werden, damit sich alle daran halten?
Klarheit. Es ist häufig sehr komplex. Es gilt immer mal wieder was anderes. Es soll wieder zu den Leuten getragen werden, übers Radio, übers Fernsehen am besten. Und dann natürlich möglichst einfach. Diese ganz komplizierten Regeln kann sich keiner merken.
Mit Mirjam Jenny sprach Nele Balgo
Quelle: ntv.de