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Debatte nach Tod eines Mädchens "Es gibt kaum eine Schule ohne Mobbing"

Schätzungsweise jedes dritte Kind ist oder war in einer Mobbingsituation.

Schätzungsweise jedes dritte Kind ist oder war in einer Mobbingsituation.

(Foto: imago/PhotoAlto)

Mobbing ist auf deutschen Schulhöfen alltäglich. Nach dem Tod einer Elfjährigen in Berlin ist die Diskussion über Psychoterror, Gewalt und Ausgrenzungen wieder neu entfacht. Beratungsstellen sehen akuten Handlungsbedarf und kämpfen für eine Enttabuisierung des Themas. n-tv.de hat mit der Sozialpädagogin Monika Hirsch-Sprätz von der Mobbingberatung Berlin-Brandenburg über das große Mobbing-Problem gesprochen.

n-tv.de Wie verbreitet ist starkes Mobbing in Schulen?

Monika Hirsch-Sprätz: Mobbing ist mittlerweile sehr verbreitet, wir gehen davon aus, dass jeder dritte Schüler entweder von einer Mobbingsituation betroffen ist oder war. Aus unserer Beratungserfahrung betrachtet ist eine zunehmende Tendenz feststellbar. Auch das starke Mobbing nimmt zu. Das geht in Richtung Erpressung, Nötigung, Körperverletzung, Psychoterror. Die Kinder, die es ausüben, werden zudem immer jünger.

Es gibt das direkte Mobbing vor Ort - von Angesicht zu Angesicht - oder auch im Internet, das sogenannte Cybermobbing. Wie sind da Ihre Erfahrungen?

Der Unterschied liegt darin, dass beispielsweise das Mobbing in der Schule im unmittelbaren Kontakt stattfindet und die Täter es direkt mit ihrem Opfer zu tun haben. Sie sehen genau, was sie anrichten. Beim Cybermobbing sitzt jemand hinter dem Bildschirm und sieht die Reaktionen des Opfers nicht. Täter können dort anonym andere schädigen, ohne direkte Konsequenzen zu fürchten. Außerdem verbreitet es sich in einem Ausmaß, das nicht steuerbar ist. Demütigungen bleiben im Netz, während beim Mobbing vor Ort die Möglichkeit besteht, dass entweder Erwachsene eingreifen oder auch Schüler reagieren.

Wenn ein Kind zu Hause von Mobbing berichtet, was können dann die Eltern tun, um es zu schützen?

Wenn Kinder zu Hause davon erzählen, ist das ein guter Ansatz. Das ist ein Anzeichen dafür, dass das Familiensystem weitgehend funktioniert. Denn es gibt auch Kinder, die Attacken für sich behalten und aus Scham nichts sagen. Gehen wir davon aus, dass ein Kind also von Mobbing berichtet, dann ist es wichtig, dass die Eltern einen störungsfreien Raum schaffen, in dem sich das Kind öffnen kann. Die Eltern müssen mitbekommen, in welchem Zustand ihr Kind ist. Man sollte eine entspannte Atmosphäre schaffen, erstmal nicht zu viele Fragen stellen und dem Kind nur zuhören.

Was ist dann zu tun?

Rat und Nothilfe bei Suizid-Gefahr und Depressionen
  • Bei Suizidgefahr: Notruf 112
  • Deutschlandweites Info-Telefon Depression, kostenfrei: 0800 33 44 5 33

  • Beratung in Krisensituationen: Telefonseelsorge (0800/111-0-111 oder 0800/111-0-222, Anruf kostenfrei) oder Kinder- und Jugendtelefon (Tel.: 0800/111-0-333 oder 116-111)
  • Bei der Deutschen Depressionshilfe sind regionale Krisendienste und Kliniken zu finden, zudem Tipps für Betroffene und Angehörige.
  • In der Deutschen Depressionsliga engagieren sich Betroffene und Angehörige. Dort gibt es auch eine E-Mail-Beratung für Depressive.
  • Eine Übersicht über Selbsthilfegruppen zur Depression bieten die örtlichen Kontaktstellen (KISS).

Je nachdem, was ein Kind schildert, ist es auch wichtig, dass Eltern die Vorfälle sofort dokumentieren - mit Datum, den involvierten Personen und Folgen. Wichtig ist, mit dem Rhythmus des Kindes mitzugehen und es aufzufangen. Im zweiten Schritt überlegt oder fragt man, was das Kind braucht. Man sollte keine Entscheidung über den Kopf des Kindes treffen. Anschließend stehen die Gespräche mit der Klassenleitung an, gegebenenfalls mit der Schulleitung. Die Eltern sollten den Fall schildern, zum Handeln auffordern und vereinbaren, dass man sich nach einer klar definierten Zeit wieder trifft, um die nächsten Schritte zu besprechen.

Gibt es noch weitere Möglichkeiten?

Ja, man sollte mit dem Kind zum Arzt gehen und über ein Attest dokumentieren lassen, was seine physischen oder psychischen Beeinträchtigungen sind. Je nach Schärfe der Situation kann man das Kind dann ad hoc aus der Klasse nehmen.

Was können Eltern denn tun, wenn die Schule einen solchen Fall verharmlost und herunterspielt?

Eltern sollen sich auf keinen Fall von der Schule einschüchtern lassen. Man muss im Sinne des Kindes penetrant sein. Außerdem sollten Eltern die Haltung von Klassenlehrerinnen und Klassenlehrern zu Mobbingvorfällen herausfinden. Wenn das Mobbing verharmlost wird, sollten Eltern Vorfälle verschriftlichen und der Schule eine Handlungsfrist setzen. Wenn es daraufhin keine weiteren Reaktionen gibt, haben Eltern auch rechtliche Möglichkeiten.

Was ist da die Eskalationsstufe?

Wenn die Schule sich ihrer Verantwortung permanent verweigert oder die Schulleitung das Thema deckelt, damit es nicht nach außen dringt, ist es umso wichtiger, dass Eltern den Kinderarzt konsultieren und der Schule noch einmal eine Frist setzen, um zu handeln. Es muss zudem mit der gesamten Klasse gearbeitet und ein Anti-Mobbing-Training durchgeführt werden.

Sind die Schulen bei den Anti-Mobbing-Programmen zu schlecht aufgestellt?

Jede Schule hat Projektgelder zur Verfügung. Anti-Mobbing-Trainings gehören fest im Lehrplan verankert. Doch solange keine klaren Konfliktlösungsstrukturen über Ministerien, den Senat oder in Eigeninitiative an Schulen etabliert werden und Themen wie Gewalt und Mobbing in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern kaum eine Rolle spielen, bleibt die Situation, wie sie ist.

Kommen wir nochmal zum konkreten Fall in Berlin. Mit aller Vorsicht gefragt: Wie kann ein Fall so eskalieren, wenn das Thema schon zum Teil bekannt war?

Dafür kann es viele Gründe geben. Zum Beispiel die Hilflosigkeit der Lehrer, mit solchen Situationen umzugehen. Sie wollen dann womöglich nicht zugeben, dass es einen Fall in der Klasse gibt, mit dem sie nicht klarkommen. Auch Desinteresse kann ein Grund sein, sie finden das lästig und schieben es wiederum auf die Elternhäuser ab. Es kann sich auch um eine Überforderungssituation handeln - zum Beispiel wegen Lehrermangel, hohem Krankenstand im Kollegium oder Burnout -, wie auch um Angst vor dem schlechten Ruf der Schule in der Öffentlichkeit.

Sind die Schulen nicht offen genug für das Thema Mobbing?

Das ist sicher von Schule zu Schule zu betrachten. Unsere Erfahrung: Es gibt kaum eine Schule ohne Mobbing.

Mit Monika Hirsch-Sprätz sprach Sonja Gurris

Quelle: ntv.de

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