Streit über kritischen Tweet Karlsruhe gibt Ex-"Bild"-Chef Reichelt recht
16.04.2024, 15:35 Uhr Artikel anhören
Der Staat muss auch scharfe und polemische Kritik aushalten, urteilen die Bundesverfassungsrichter.
(Foto: dpa)
Wie weit darf Kritik am Regierungshandeln gehen, wenn sie gemischt ist mit Falschbehauptungen? Ex-"Bild"-Chef Reichelt zieht wegen eines Tweets, in dem er schreibt, Deutschland zahle Geld an die Taliban, vor das Verfassungsgericht. Die Karlsruher Richter entscheiden zugunsten Reichelts.
Im Streit über Kritik an der Bundesregierung hat sich der ehemalige "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt mit einer Verfassungsbeschwerde am Bundesverfassungsgericht durchgesetzt. Reichelt hatte sich vor dem höchsten deutschen Gericht gegen eine einstweilige Verfügung des Kammergerichts Berlin gewendet, durch die ihm eine kritische Äußerung über die Bundesregierung untersagt wurde.
Die Entscheidung des Kammergerichts verletze Reichelt in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit, erklärte das Bundesverfassungsgericht am Dienstag in Karlsruhe. Sie verfehle den Sinn der angegriffenen Äußerung und deren Charakter als Meinungsäußerung. Der Staat habe grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten. Kritik sei auch dann geschützt, wenn sich in ihr Tatsachen und Meinungen vermengten, erklärte das Verfassungsgericht. Der Fall wird an das Kammergericht zurückverwiesen und muss dort neu verhandelt werden.
Reichelt hatte im August 2023 auf der Onlineplattform X geschrieben, Deutschland habe Entwicklungshilfe an die Taliban gezahlt. Er schrieb wörtlich: "Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!". Er verlinkte auf einen Artikel mit der Überschrift "Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan". Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) stellte einen Antrag auf eine einstweilige Verfügung, dem hatte das Kammergericht stattgegeben.
BMZ: Kein Geld für das Taliban-Regime
Das Kammergericht Berlin untersagte Reichelt, der heute für das Portal "Nius" tätig ist, die Aussage zu verbreiten oder zu veröffentlichen. Es handele sich um eine "unwahre Tatsachenbehauptung", die geeignet sei, das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit der Bundesregierung zu gefährden. Der durchschnittliche Leser verstehe die Äußerung so, dass das Geld von der Bundesregierung direkt an die Taliban ging.
Nach Angaben des BMZ erfolgt die Umsetzung entwicklungspolitischer Maßnahmen der Bundesregierung in Afghanistan ausschließlich regierungsfern über die Weltbank, UN-Organisationen und Nichtregierungsorganisationen. Es erfolgen demnach keine finanziellen Zusagen an das Taliban-Regime.
In einer Reaktion auf den Karlsruher Beschluss sagte ein Sprecher des Ministeriums: "Selbstverständlich hält das Entwicklungsministerium auch schärfste und polemische Kritik aus. Es ging uns bei diesem Verfahren ausdrücklich nicht darum, uns vor Kritik zu schützen, sondern allein darum, dass die Fakten stimmen." Dies sei die Grundlage für eine ehrliche Debatte. Karlsruhe komme zu einem anderen Schluss, "was die Trennlinie zwischen Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen angeht". Dennoch nehme das Ministerium das Urteil mit Respekt zur Kenntnis und wird den Rechtsstreit nicht weiter verfolgen.
Quelle: ntv.de, jog/dpa/AFP