Panorama

Inzidenz nur noch ein Faktor Länder schlagen bundesweite Corona-Ampel vor

Corona-Ampel statt Inzidenz-Fixierung: Die Obersten Gesundheitsbehörden der Länder erarbeiten ein neues Pandemiewarnsystem für Deutschland.

Corona-Ampel statt Inzidenz-Fixierung: Die Obersten Gesundheitsbehörden der Länder erarbeiten ein neues Pandemiewarnsystem für Deutschland.

(Foto: picture alliance/dpa)

Um Deutschland ohne Lockdown gegen die nächste Delta-Welle zu schützen, fordern Experten schon länger eine Abkehr von der Inzidenz-Fixierung. Der Bund-Länder-Gipfel blieb in diesem Punkt allerdings vage. Dabei haben die Länder bereits seit Juli ein Konzept für eine bundesweite Corona-Ampel in der Schublade.

Auch nach den Beschlüssen von Bund und Ländern zur künftigen Corona-Strategie bleibt es bei der umstrittenen Sieben-Tage-Inzidenz als einzigem Warnwert für die Pandemiedynamik. Allerdings wäre die Enttäuschung vieler Fachleute über dieses Gipfel-Ergebnis vermeidbar gewesen. Denn die Obersten Landesgesundheitsbehörden lieferten zusammen mit dem Robert-Koch-Institut bereits ein ausgefeiltes Konzept für ein bundesweites Corona-Warnsystem. Die Inzidenz soll laut dem Papier, das ntv.de vorliegt, nur noch einer von drei Faktoren sein. Das sechsseitige Papier mit Datum vom 29. Juli stand Bund und Ländern damit bereits seit zwei Wochen zur Verfügung. Ob und wo das Papier möglicherweise im Austausch von Gesundheitsministerium, RKI, Bund und Ländern feststeckte, ist unklar.

Die Einheit "Strategiewechsel" der Arbeitsgruppe Infektionsschutz erarbeitete den Vorschlag, wie mit drei Faktoren künftig "die gesundheitlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen einer vierten Infektionswelle der Covid-19-Pandemie so weit wie möglich eingedämmt werden". Die Inzidenz als einer von drei Faktoren wird darin als zeitlich frühester Indikator gesehen und daher als "Seismograf der Ausbreitungsgeschwindigkeit" bezeichnet. Die Sieben-Tage-Hospitalisierungsinzidenz zeigt schwere Verläufe an und wird von den Autoren als "Schutzwert für die Krankheitslast" eingeführt. Der Anteil der Corona-Fälle an der Kapazität der Intensivstationen wird als "Belastungswert für die Auslastung des Gesundheitssystems" an dritter Stelle berücksichtigt.

"2G statt 3G"

Lockerungen sollen laut dem Länder-Papier erst dann zurückgenommen werden, wenn bei zwei der drei Indikatoren die Kriterien für die jeweilige nächste Warnstufe erfüllt sind. Warnstufe zwei gelte beispielsweise, wenn die Inzidenz zwischen 101 und 200 liegt und es sieben bis zwölf Schwerkranke pro 100.000 Einwohner gibt. Und Warnstufe drei würde bei einer Inzidenz über 200 sowie bei mehr als zwölf Schwerkranken pro 100.000 Einwohnern oder einem Anteil von mehr als zwölf Prozent Covid-Erkrankter an der Intensivstation-Kapazität gelten. Dann sollen Verschärfungen greifen - zum Beispiel, dass ungeimpfte getestete Personen sich nicht mehr im Innenbereich von Restaurants aufhalten dürfen ("2G statt 3G").

Die Autoren der Herbst-Winter-Strategie bündeln sämtliche Corona-Maßnahmen unter vier Ziele: So wenig Covid-Kranke und Tote wie möglich. Vulnerable Gruppen schützen. Das Gesundheitswesen nicht überlasten und Lockdowns vermeiden. Ausgangslage sei die "Erwartungshaltung der Bevölkerung für sehr weitreichende Öffnungen". Zugleich bestehe für einen erheblichen Anteil der Bürger durch Delta ein erhöhtes Infektionsrisiko. Auf dieser Basis, folgern die Infektionsschutz-Experten, "ist eine umfassende Kontaktpersonennachverfolgung durch die Gesundheitsämter nicht mehr verhältnismäßig."

Hausärzte verärgert über Verharren in Angst

Die Spitzen von Bund und Ländern hatten sich am Dienstag auf eine Reihe von Corona-Maßnahmen verständigt, um eine vierte Infektionswelle nach den Ferien abzuwenden. Beim Abschied von der alleinigen Orientierung am Inzidenzwert konnten sich Bund und Länder allerdings lediglich auf eine vage Formel einigen. Die Frage, wann welche Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie in Kraft gesetzt werden, solle künftig nicht mehr allein vom Inzidenzwert abhängig gemacht werden. Auch Kennzahlen wie die Impfquote, die Zahl der schweren Krankheitsverläufe und die Auslastung der Intensivstationen müssten "berücksichtigt" werden, heißt es in dem Beschluss. Verbindliche Größen legten die Regierungschefs aber noch nicht fest.

Nach dem Beschluss des Bund-Länder-Gipfels basiert auch die Anwendung der neuen "3G"-Regel weiterhin auf dem Inzidenzwert. "3G" besagt: Zugang zu Innenraum-Angeboten soll künftig nur noch bekommen, wer geimpft, genesen oder getestet ist. Als neue Kennzahl vereinbarten Bund und Länder einen Inzidenzwert von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in einer Woche: Wenn der Wert in einem Landkreis stabil unter dieser Zahl liegt, können die Länder die 3G-Regel ganz oder teilweise aussetzen.

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Nach dem Gipfel kritisierten die Deutschen Hausärzte die anhaltende Ausrichtung der Corona-Politik am Inzidenzwert. Es hätte "endlich eines bundeseinheitlichen, umfassenden Bewertungssystems des Pandemiegeschehens auf Basis unterschiedlicher Faktoren bedurft", sagte der Vorsitzende des Hausärzteverbands, Ulrich Weigeldt, den Zeitungen der Funke Mediengruppe am Mittwoch. Das Virus könne "Teil eines Alltags" werden, der Risiken mitbedenke, "ohne in der angstbehafteten Krisensituation zu verharren".

In einer früheren Version des Artikels hatten wir das Papier als ein internes Strategiepapier des Robert-Koch-Instituts bezeichnet. Richtig ist: Das RKI hat nur beratend an dem Konzept mitgewirkt.

Quelle: ntv.de, mau

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