Panorama

Angehörige am Limit"Man rutscht in die Pflege hinein"

11.05.2019, 11:31 Uhr
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Die Pflege beginnt oft mit kleinen Handreichungen. (Foto: Marcel Kusch/dpa)

Dreiviertel aller zu pflegenden Menschen werden zu Hause betreut. Häufig übernehmen die Pflege Angehörige - Mütter, Väter, Omas, Opas, Urgroßeltern oder Enkel. Die Belastung ist enorm und bringt die Familien an ihre Grenzen.

Dreiviertel aller zu pflegenden Menschen werden zu Hause betreut. Häufig übernehmen die Pflege Angehörige - Mütter und Väter, Omas und Opas, Urgroßeltern oder Enkel. Die durchschnittliche Pflegedauer liegt zwischen acht und zehn Jahren. Vieles - was hier Menschen füreinander leisten - passiert im Verborgenen. Die Belastung ist enorm und bringt die Familien an den Rand ihrer Leistungsgrenzen, beobachtet Frank Schumann von der Berliner Fachstelle der Diakonie für Pflegende Angehörige.

n-tv.de: Wenn über Pflege gesprochen wird, haben viele vor allem Menschen in den Gesundheitsberufen vor Augen. Ein riesiger Teil der Pflegearbeit wird aber von Angehörigen geleistet. Wie viele Menschen betrifft das?

Frank Schumann: Nach dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff von 2017 haben wir mittlerweile dreieinhalb Millionen Pflegebedürftige in Deutschland. Mehr als die Hälfte von ihnen wird ausschließlich durch Angehörige zu Hause versorgt. Wir gehen von 4,5 bis 5 Millionen pflegenden Angehörigen bundesweit aus. 2017 hat eine Umfrage von uns an Berliner Schulen ergeben, dass sogar etwa 6,8 Prozent der Schüler in ein häusliches Pflegesystem eingebunden sind.

Wenn das so viele Menschen betrifft, warum wird darüber nicht offen gesprochen?

Pflege ist eben kein Stammtischthema und auch nicht unbedingt das Thema mit meinem Nachbarn am Gartenzaun, sondern es ist tendenziell eher tabuisiert. Es wird hinter geschlossenen Türen besprochen, wenn man Glück hat, im Kreis der Familie. Wenn man Pech hat, sind auch in Familien viele mit ihren Gedanken alleine.

Wie kommt es dazu, dass so viele Familienmitglieder die Pflege übernehmen?

Häufig steht am Beginn der Impuls helfen zu wollen. Man assistiert einmal in der Woche beim Vollbad oder geht zweimal in der Woche einkaufen. Dann wird die Pflege immer umfangreicher. Das muss gar nicht immer die große Liebe beispielsweise zwischen Kindern und zu pflegenden Eltern sein. Manchmal ist es schlicht Verantwortungsgefühl. Man denkt, hier ist jemand, der hat mir Gutes getan, als ich jung war. Das will ich jetzt zurückgeben. Manchmal gibt es auch das Gefühl: Es gehört sich, dass man als naher Angehöriger hilft.

Häufig übersteigt es dann aber die Kraft der Pflegenden. Warum ist es dann so schwierig, sich wieder zurückzuziehen?

Das Tückische an der Pflege ist, dass man ihr Ausmaß nicht einschätzen kann. Oft sind das schleichende Prozesse. Da ist ein Angehöriger gestürzt und hat sich etwas gebrochen. Man denkt, man hilft für einen überschaubaren Zeitraum. Dann gibt es Komplikationen und man rutscht in die Pflegesituation immer tiefer hinein. Ganz häufig geschieht das auch bei geistigen Veränderungen, bei Demenz oder durch einen Schlaganfall. Kaum jemand malt sich den "schlimmsten Fall" aus. Aber die durchschnittliche Pflegedauer in der häuslichen Pflege in Deutschland liegt zwischen acht und zehn Jahren.

Was bedeutet diese Pflegezeit für die Familien?

Das hat massive Veränderungen zur Folge, oft wird das ganze Familiensystem erschüttert. Bei Pflegesituationen, in denen mehrere Angehörige eingebunden sind, entsteht häufig Uneinigkeit darüber, wie die Pflege gestaltet werden soll. Wer übernimmt welche Verantwortung? Soll externe Pflege hinzugezogen werden oder nicht? Das kann zur Zerrüttung von Familien führen. Inzwischen wissen wir: Pflege beeinflusst Familien genauso stark wie beispielsweise die Geburt eines Kindes. Außerdem belegen Studien, dass pflegende Angehörige ein sehr viel höheres Krankheitsrisiko haben als gleichaltrige nicht pflegende Menschen.

Inzwischen wird Pflege häufig als familiäre Arbeit im gleichen Atemzug mit der Betreuung von Kindern genannt.

… und das ist gut und richtig. Denn da sollten wir uns nichts vormachen. Wir werden alle und zwar ausnahmslos alle in diese Situation kommen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir einen Angehörigen pflegen wollen. Oder wir müssen festlegen, ob wir von einem Angehörigen gepflegt werden wollen oder lieber von einer Sozialstation oder in einer stationären Pflegeeinrichtung. Es ist tatsächlich ein Thema, das uns alle betrifft.

Wie kann man dafür sorgen, dass darüber offener gesprochen und nachgedacht wird?

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Schumann ist gelernter Krankenpfleger und hat zwanzig Jahre in der ambulanten Pflege gearbeitet, bevor er die Fachstelle für Pflegende Angehörige aufbaute. (Foto: Rocco Thiede)

Da ist ein Paradigmenwechsel nötig von einer als selbstverständlich angesehenen Familienarbeit hin zu einer gesellschaftlich anerkannten Leistung. Pflege ist keine Randnotiz des Lebens, sondern ein Dienst an der Gesamtgesellschaft. Wenn das, was ich tue, etwas Außergewöhnliches ist, dann kann ich mir auch Unterstützung und Hilfe holen, ohne dass ich mich schlecht dabei fühlen muss.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die "Woche der pflegenden Angehörigen"?

Auf der einen Seite wird in dieser Woche die Ehrung mit einzelnen Gesichtern und ihren Geschichten in den Fokus gestellt. Sie erfahren Anerkennung und Wertschätzung, die ihnen oft versagt bleibt. Damit wollen wir für diese vielen Menschen sensibilisieren, in der Gesellschaft, der Politik, auch bei Kostenträgern. Es soll aber auch um Selbstpflege gehen, um einen zeitweisen Ausstieg aus der Pflegesituation.

Mit Frank Schumann sprach Rocco Thiede

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