Panorama

100 Jahre Surrealismus Mit Magritte dem Irrsinn des Realen entfliehen

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Ein Labyrinth mit schwebenden Bildern: die Reise durch den belgischen Surrealismus im Bozar.

Ein Labyrinth mit schwebenden Bildern: die Reise durch den belgischen Surrealismus im Bozar.

(Foto: Bozar/ We Document Art )

Brüssel vibriert, denn 100 Jahre Surrealismus werden gefeiert. Wer sich einmal in die rätselhaften Fantasiewelten von René Magritte und seinem Kreis begibt, entdeckt Surreales jenseits vielfältiger Ausstellungen überall - auch im Hier und Jetzt.

Bäume werfen geheimnisvolle Schatten, in den Fenstern schimmern Lichter, eine Laterne leuchtet, spiegelt sich in einer Pfütze. Banal auf den ersten Schein. Doch der trügt. Über der nächtlichen Szene wölbt sich ein tagblauer Himmel samt Wattewolken. Wurde dieses unheimliche Setting von Künstlicher Intelligenz produziert?

Tag und Nacht zur gleichen Zeit oder doch nur ein Dämmerungszustand? Das Verwirrspiel fasziniert.

Tag und Nacht zur gleichen Zeit oder doch nur ein Dämmerungszustand? Das Verwirrspiel fasziniert.

(Foto: Royal Museums Fine Arts Belgium)

Nein! Das Bild entstand 1954 und ist ein typischer René Magritte. Der belgische Maler, geboren 1889, war ein Meister der Täuschung, versah seine Bilder mit Stolperfallen für den Kopf. Auch 57 Jahre nach seinem Tod ist er ein Star. So wie sein Nacht-Tag-Bild, das derzeit in der Königlichen Akademie der Schönen Künste in der Ausstellung "Imagine! 100 Jahre Internationaler Surrealismus" zu sehen ist. Die Schau mitsamt diesem ikonischen Werk geht danach auf Welt-Tournee, gastiert in den kommenden Jahren in Madrid, Paris, Hamburg und Philadelphia.

Zurzeit laufen in der belgischen Hauptstadt mehrere hochkarätige Ausstellungen zum Thema, denn der Surrealismus begeht in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag. An verschiedensten Orten können Neugierige den paradoxen Unheimlichkeiten der belgischen Surrealistenbewegung auf den Grund gehen. Allein schon Magritte garantiert weltweit volle Häuser. Merchandising-Produkte mit seiner Kunst finden sich in Museumsshops und 24/7 im World Wide Web.

Raus aus dem realen Irrsinn

Auf dem Brüsseler Mont des Arts, dem Kunstberg, werden aktuell mit "Imagine!" über 130 Bilder, Zeichnungen, Skulpturen und Collagen gezeigt. Die Künstlerinnen und Künstler mixten Schein und Sein, Erzählung und Wahrheit beständig neu. In Sesam-öffne-dich-Manier stießen sie das Tor zu einer fremden Welt auf. "Was gibt es Schöneres, als sich von Surrealisten inspirieren zu lassen?", das fragt Sara Lammens, Direktorin der königlichen Museen. Sie findet, man müsse die Fantasie wieder in den Mittelpunkt seines Lebens stellen und unvoreingenommen den Blick auf das Diesseits werfen.

Wer war Magritte? Das Banale und Alltägliche inspirierte ihn, zieht bis heute magisch in den Bann.

Wer war Magritte? Das Banale und Alltägliche inspirierte ihn, zieht bis heute magisch in den Bann.

(Foto: Royal Museums Fine Arts Belgium)

Was dank des Titels "Imagine!" nach der Friedenshymne von John Lennon klingt, führt klug durch das Dickicht der eng miteinander verwobenen Wege des internationalen Surrealismus. Thematisch in Kapitel unterteilt: von der Nacht geht es in den Tag, vom Walddunkel weiter zum Körper und schließlich landen die BesucherInnen bei Metamorphosen, Mythen und im Kosmos. Wohliger Schwindel macht sich breit. Bis heute faszinieren die Werke dieser weltweiten Kunstströmung, die sich massiv gegen traditionelle Normen stemmte. Bis heute kann man mit diesem Œuvre aus dem Irrsinn des Realen entfliehen.

Wie manipulierbar Bilder immer schon waren, belegt "Imagine!" in der Königlichen Akademie der Schönen Künste. Die Realität war den Surrealisten einfach nicht genug. Dabei ist alles, was zu sehen ist, von Hand gemalt oder manuell erschaffen. Ganz ohne Hilfe von KI und lange Zeit vor den sozialen Medien kreierten die surrealistischen Künstlerinnen und Künstler Überraschendes. Sie setzen beispielsweise in Collagen Bilder zu neuer Kunst zusammen. Schere und Kleber reichten, dafür brauchte man nicht mal ein Atelier.

Wo ist der grüne Apfel?

Was macht der Apfel da auf dem Dach? Das Magritte Museum ist eine Hommage an den berühmten Surrealisten, der gerne grüne Äpfel anders inszenierte.

Was macht der Apfel da auf dem Dach? Das Magritte Museum ist eine Hommage an den berühmten Surrealisten, der gerne grüne Äpfel anders inszenierte.

(Foto: Royal Museums Fine Arts Belgium)

Die Metamorphosen des Realen von damals setzen die Fantasie flirrend in Gang. Wer sich in diesen Bilderkosmos vertieft, wird dazu gebracht, die Umgebung vor den Ausstellungshäusern neu zu betrachten. Die Grenzen verschwimmen, ganz Brüssel steckt plötzlich voller unerwarteter Kontraste. Alles so surreal hier! Ein riesiger grüner Apfel à la Magritte befand sich gerade noch auf dem Dach des Magritte Museums. Jetzt ist er verschwunden.

Und dann das: Kein einziges Bild hängt an den Wänden des Bozar, dem Museum für die Schönen Künste, einem weiteren Ausstellungsort für das Jubiläumsjahr. Überall blockieren Stellwände die Sicht und die scheinen sogar zu schweben - raffinierter Spiegeloptik sei Dank. Unzählige Gemälde, Zeichnungen, Fotos oder Collagen finden sich an weißen Holzflächen. In Schaukästen werden Zeitschriften, Briefe und kleine Objekte gezeigt. Wie durch ein Labyrinth gleitet das Publikum durch diese Traumwelten.

Die Schau "Histoire de ne pas rire. Surrealism in Belgium" im Bozar beleuchtet vorrangig die belgische Variante der Kunstrichtung. Der Franzose André Breton begründete den Surrealismus mit einem Manifest 1924 in Paris. Angefixt von den intellektuellen Grundlagen dieses Programms entwarf der belgische Dichter Paul Nougé nur wenige Wochen darauf sein eigenes Manifest. Das war die Geburtsstunde des belgischen Surrealismus. Die beteiligten Dichter, Komponisten und Künstler schlugen andere Wege ein als die Kollegen in Paris.

Sie waren poetischer, "aber auch viel politischer", erklärt Kurator Xavier Cannone im Gespräch mit ntv.de. Was auch daran lag, dass "Nougé seit dem Ende des Ersten Weltkrieges Kommunist war. Mit seinem Manifest wollte er die Gesellschaft nachhaltig verändern. Magritte und andere belgische Surrealisten hingen der linken Gruppierung ebenfalls an." Das gehörte für die Avantgarde dazu.

Hüllenlos gegen Spießertum

Bilder mit subversiver Kraft. Die Nackte namens "Black Magic", gemalt von Magritte, sollte aufregen.

Bilder mit subversiver Kraft. Die Nackte namens "Black Magic", gemalt von Magritte, sollte aufregen.

(Foto: René Magritte, La magie noire (1945) © Ch. Herscovici, avec son aimable autorisation co SABAM Belgium, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Bruxelles, photo J. Geleyns - Art Photography)

Gegen die muffige Bourgoisie und die rückständige Kirche werden nackte Frauenkörper zu Waffen. Mit Nacktheit konnten sie damals die Massen schocken. Und die Frauen? Sie selbst nutzten Hüllenlosigkeit zur Reflexion der eigenen sozialen Position und Identität. In beiden Brüsseler Schauen wird den Künstlerinnen eine Plattform eingeräumt. Xavier Cannone betont, dass Frauen und ihr weiblicher Blick auf die Welt immer ein wichtiger Teil der Bewegung waren. Sie waren in der Politik oder als Schriftstellerinnen aktiv. "Lange Zeit sorgte Georgette Magritte für den Lebensunterhalt. Die Kunst ihres Mannes konnte keiner leiden", sagt er.

Magritte und Co. malten naturalistisch, beinahe naiv, doch nur, um in die Irre zu führen. Es sei interessant, so Cannone, wie offen die Werke der belgischen Surrealisten seien. Egal, auf welchen Kontinenten, gleich ob sie Kindern oder Erwachsenen gezeigt werden, jedes Bild wird von jedem Individuum anders gesehen. Vorwissen, um sie zu verstehen, sei nicht nötig. Jede Interpretation sei willkommen.

Virtuos tauschten die Kunstschaffenden Gegensätze wie Tag und Nacht, Groß und Klein gegeneinander aus, enthebelten die Gesetze der Schwerkraft. Riesige Felsbrocken fliegen wie Staubkörner in Räumen umher. Es geht um Poesie, nicht um Physik, die Ambivalenz von Ferne und Nähe, Enge und Weite. Und um die Möglichkeit, alles mit einer anderen Bedeutung aufzuladen. Vögel, Äpfel, Melonenhüte, blauer Himmel, Backsteingebäude tauchen immer wieder auf, sind universelles Vokabular.

Das ist keine Pfeife! Oder doch?

Wer mag, kann in Brüssel auch in das Werk des nicht weniger skurrilen Malers James Ensor einsteigen.

Wer mag, kann in Brüssel auch in das Werk des nicht weniger skurrilen Malers James Ensor einsteigen.

(Foto: Royal Library of Belgium)

Apropos Vokabular, die Verbindung von Wort und Bild ist René Magritte wichtig. So schrieb er unter eine gemalte Pfeife den Satz: "Das ist keine Pfeife". Das Bild kennt jeder. Der Maler hat recht: Denn eine gemalte Pfeife ist eben keine echte Pfeife. An vielen Stellen im Bozar wird dem Publikum ein Lächeln entlockt. Besonders bei Fotografien, die im Haus von Magritte entstanden sind. Spaß war dem belgischen Surrealistenkreis wichtig - obwohl es in der Zeit zwischen den Weltkriegen eigentlich nicht viel zu lachen gab. "Humor war für sie wie ein Werkzeug. Damit provozierten sie Reaktionen und versuchten vorhandene Mauern zu durchbrechen", so Cannone.

Anfang der 50er Jahre fand Magritte schließlich eine Galerie. Er malt zu festen Uhrzeiten, setzt sich selbst als Kleinbürger in Szene. Ganz so wie die Menschen in seinen Gemälden. Sein bescheidenes Wohn- und Atelierhaus im Stadtteil Schaarbeek, wo er 1967 an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb, ist einen Besuch wert.

Irgendwann schwirrt einem in den Brüsseler Museen der Kopf. Der Einstieg in diese erdachte Realität voller mentaler Kopfnüsse lohnt aber. Surrealismus zielt auf das Unterbewusste und Rätselhafte ab. Das verwirrt, trifft immer noch mitten ins Hirn und hallt nach. Das Spiel der Surrealisten mit Bedeutung und Wahrnehmung ist so rätselhaft wie erhellend und steckt voller Inspiration.

"IMAGINE! 100 Years of Surrealism" bis zum 21. Juli im Royal Museum of Fine Arts
"Histoire de ne pas rire. Surrealism in Belgium" bis zum 16. Juni im Bozar, außerdem im Magritte Museum

Quelle: ntv.de, Von Juliane Rohr, Brüssel

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen