Panorama

Prozessauftakt in Berlin SUV-Unfall mit vier Toten: Angeklagter hatte Tumor

Das zerstörte Unfallauto am 6. September 2019. Der Angeklagte Michael M. sagte zum Prozessauftakt, keine Erinnerungen an den Unfall zu haben.

Das zerstörte Unfallauto am 6. September 2019. Der Angeklagte Michael M. sagte zum Prozessauftakt, keine Erinnerungen an den Unfall zu haben.

(Foto: dpa)

Vier Menschen starben am 6. September 2019, mutmaßlich aufgrund des epileptischen Anfalls eines Autofahreres. Nun muss dieser sich vor Gericht verantworten. Im Kern geht es dabei um die Frage: Hätte der Angeklagte überhaupt hinter dem Steuer sitzen dürfen?

Mehr als zwei Jahre nach dem Tod von vier Fußgängern bei einem Unfall in Berlin-Mitte hat der Prozess gegen den 44-jährigen Fahrer des Unfallwagens begonnen. Zum Prozessauftakt vor dem Landgericht Berlin drückte der Angeklagte den Angehörigen sein Beileid aus. Es sei ein "schreckliches, ganz grauenhaftes Unglück, bei dem vier Menschen zu Tode gekommen sind und das Leben von vielen mehr zerstört worden ist. Ich bin zutiefst verzweifelt über das unermessliche Leid, das mein Unfall verursacht hat", erklärte Michael M. nach dem Verlesen der Anklageschrift.

Die Staatsanwaltschaft geht allerdings nicht von einem schicksalshaften Unglück aus. Sie wirft dem Diplom-Kaufmann fahrlässige Tötung in vier Fällen und fahrlässige Gefährdung des Straßenverkehrs vor. Die Staatsanwaltschaft ist davon überzeugt, dass Michael M. am Unfalltag am Steuer seines Porsche Macan Turbo saß, obwohl er infolge eines Tumors mit epileptischen Ausfallerscheinungen und einer kurz zuvor durchgeführten Gehirnoperation nicht in der Lage war, aktiv am Straßenverkehr teilzunehmen. Der 44-Jährige sei sogar von seinem Arzt gewarnt worden. Er soll demnach in der Zeit seit der Krankheitsdiagnose vor dem Unfall mehrfach durch seinen behandelnden Neurologen dazu aufgefordert worden sein, bis auf Weiteres kein Fahrzeug mehr zu führen, so die Staatsanwaltschaft.

Auto raste mit bis zu 106 km/h auf den Gehweg

Der SUV von Michael M. war am Unfalltag kurz nach 19 Uhr aus der wartenden Schlange vor einer roten Ampel auf der Berliner Invalidenstraße ausgeschert. Ob dies bereits Folge eines epileptischen Anfalls oder ein bewusstes Fahrmanöver des Angeklagten war, um an den wartenden Autos vorbeizufahren und noch vor der Ampel abzubiegen, muss der Prozess klären. Fest steht, dass der Wagen auf den Fahrstreifen der Gegenrichtung fuhr und dort rasant an Geschwindigkeit zulegte. Mutmaßlich infolge eines epileptischen Anfalls soll das Bein des Angeklagten verkrampft, Michael M. das Gaspedal voll durchgedrückt und er "konstant voll beschleunigt haben und ungebremst auf den Fußweg gefahren sein", erklärte die Staatsanwaltschaft. Das Fahrzeug traf nach rund 80 Metern Fahrt vier Passanten, die gerade die Kreuzung überquert hatten. Mit einer Geschwindigkeit von 102 bis 106 km/h, wie anhand der Fahrzeugdaten rekonstruiert wurde. Der gesamte Unfall wurde von der Dash-Cam eines Taxis aufgenommen.

Der Angeklagte steht im Gerichtssaal zwischen seinen Anwälten Carolin Lütcke und Robert Unger im Saal 500 des Landgerichts Berlin.

Der Angeklagte steht im Gerichtssaal zwischen seinen Anwälten Carolin Lütcke und Robert Unger im Saal 500 des Landgerichts Berlin.

(Foto: dpa)

An der Kreuzung Invaliden-/Ackerstraße riss der SUV einen Poller aus der Verankerung, knickte eine Ampel um, drehte sich um die eigene Achse und überschlug sich danach mehrfach, bevor er im Bauzaun eines noch unbebauten Grundstücks landete. Dabei erfasste er die vier Fußgänger. Alle vier starben noch an der Unfallstelle - ein dreijähriger Junge, dessen 64-jährige Großmutter und ein Paar, zwei Männer, 28 und 29 Jahre alt, aus Spanien und England, die gerade erst gemeinsam nach Berlin gezogen waren. Michael M., seine neben ihm sitzende Mutter und seine damals 6-jährige Tochter auf dem Kindersitz der Rückbank wurden leicht verletzt.

Neun Angehörige der Opfer sind nun als Nebenkläger in dem Verfahren zugelassen. Zum Prozessauftakt erschien jedoch nur einer von ihnen persönlich. Für seine Mandanten sei es eine "wahnsinnige Belastung", erklärte der Anwalt einer Familie eines getöteten jungen Mannes.

Nur einen Punkt im Verkehrsregister

Der in Polen geborene, deutsche Angeklagte zeichnete in seiner Einlassung vor Gericht von sich selbst das Porträt eines unbescholtenen, rechtschaffenen Bürgers. "Ich bin nicht vorbestraft und habe noch nie vor Gericht gestanden. Ich nehme keine Drogen, ich rauche nicht. Ich habe immer viel Sport gemacht und nur selten Alkohol getrunken", so Michael M. Auch sei er kein notorischer Verkehrsrowdy. Er habe noch nie seine Fahrerlaubnis verloren, sei über 20 Jahre unfallfrei gefahren und habe in Flensburg nur einen Punkt, weil er "2018 auf der Stadtautobahn bei Schönefeld 21 km/h zu schnell gefahren" sei.

Noch wichtiger war dem Angeklagten allerdings, den Eindruck zu vermitteln, dass er keineswegs davon ausging, einen epileptischen Anfall zu bekommen und damit dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung direkt am ersten Prozesstag entgegenzutreten. Bei ihm, so Michael M., sei 2018 "als Zufallsfund ein kleiner gutartiger Tumor" im Kopf festgestellt worden, der aber nicht als behandlungswürdig eingestuft worden sei.

Am 12. Mai 2019 erlitt der Angeklagte dann aber im Schlaf einen epileptischen Anfall. Danach habe er sich in medizinische Behandlung begeben, so Michael M. weiter. Mit Medikamenten - Keppra 500 - und vor allem mit einer Operation und Entfernung des Tumors in der Schweiz am 7. August 2019 habe er alles getan, um einen zweiten Anfall auszuschließen. Von den Schweizer Ärzten habe er in den Folgewochen mehrere positive Nachrichten erhalten. Die letzte am 30. August 2019 mit der Bestätigung "keine Nachbehandlung, MR Kontrolle in 3 Monaten".

Wiederholt betonte Michael M., dass in sämtlichen Schreiben und Mitteilungen der Ärzte nicht darauf hingewiesen worden sei, dass er "für einen bestimmten Zeitraum nach der OP kein Auto fahren dürfe". Lediglich mündlich sei ihm gesagt worden, besser für vier Wochen nicht selbst zu fahren.

"Es gab überhaupt keine Anhaltspunkte dafür, dass ich irgendwann nochmals einen epileptischen Anfall erleiden könnte", fasste der Angeklagte am Ende zusammen. "Wenn ich auch nur im Entferntesten mit der Möglichkeit eines zweiten Anfalls gerechnet hätte, wäre ich niemals zusammen mit meiner 6-jährigen Tochter und meiner Mutter im Auto gefahren."

"Wir sind empört über die Einlassung"

Das sehen Staatsanwaltschaft und auch die Nebenkläger anders. Sie verweisen darauf, dass Michael M. sehr wohl und mehrfach über seine Fahruntauglichkeit aufgeklärt worden sei. Laut Nebenklagevertreter soll einer der Schweizer Neurologen Michael M. gesagt haben, dass er ein Jahr lang nach der Hirn-OP kein Auto fahren dürfe. Auch sei ihm schon nach seinem ersten epileptischen Anfall im Mai 2019 ein dreimonatiges Fahrverbot vonseiten der Berliner Charité auferlegt worden, an das er sich, so eine Vertreterin der Nebenklage, nicht gehalten habe. Noch unmittelbar vor dem Unfall soll die damals hochschwangere Frau des Angeklagten zudem medizinischen Rat aus der Schweiz eingeholt haben, weil sie besorgt über den Zustand ihres Mannes gewesen sei.

Eine Bürgerinitiative sorgte unmittelbar nach dem Unfall dafür, dass sich die Verkehrssituation in der Invalidenstraße seit dem Unfall verändert hat. Inzwischen gilt dort Tempo 30 und es entstanden sogenannte geschützte Fahrradwege auf beiden Straßenseiten.

Eine Bürgerinitiative sorgte unmittelbar nach dem Unfall dafür, dass sich die Verkehrssituation in der Invalidenstraße seit dem Unfall verändert hat. Inzwischen gilt dort Tempo 30 und es entstanden sogenannte geschützte Fahrradwege auf beiden Straßenseiten.

(Foto: dpa)

"Wir sind eher empört über die Einlassung als dass sie irgendwie zur Beruhigung beigetragen hätte", sagte Christina Clemm, Anwältin der Nebenklage nach Ende des ersten Prozesstages. Der Angeklagte habe in seiner Einlassung viel über sich gesprochen und sich als Opfer dargestellt. Rechtsanwalt Peer Stolle, der die Familie des getöteten Briten vertritt, erklärte, der entsetzliche Unfall sei vermeidbar gewesen, "hätte sich der Angeklagte einfach an den ärztlichen Rat gehalten". Die Beileidsbekundungen von Michael M. halte er für unangebracht. Michael M. sei offenbar "vor allem traurig über sich selbst". Die Entschuldigung bei den Hinterbliebenen komme mehr als zwei Jahre nach dem Unfall zudem zu spät.

Von Freispruch bis fünf Jahre Haft

Das Gericht hat zunächst 21 Prozesstage bis Anfang Februar 2022 angesetzt, um das Geschehen aufzuklären. Am nächsten Prozesstag soll der Angeklagte weiter befragt werden. Etwa 70 Zeuginnen und Zeugen hat die Staatsanwaltschaft nach Gerichtsangaben benannt, wobei noch offen ist, ob wirklich alle vor Gericht erscheinen müssen.

Allein wegen der medizinischen Fragen ist jedoch von einer umfangreichen Beweisaufnahme auszugehen. Unter den Verfahrensbeteiligten befinden sich neben den Anwälten der neun Nebenkläger fünf Richter, die Staatsanwaltschaft und drei Dolmetscher für die Verwandten der beiden britischen und spanischen Todesopfer. Sie alle erwarten am Ende eine Klärung der Schuldfrage: Hatte sich Michael M. vorsätzlich hinters Steuer gesetzt, im Wissen darum, dass er einen Anfall erleiden könnte? Hätte er vielleicht nur, wie es die Staatsanwaltschaft sagte, als "besonnener und gewissenhafter Mensch" besser darauf verzichtet, am 6. September 2019 ins Auto zu steigen? Oder war es am Ende vielleicht doch nur ein Unglück, wie es der Angeklagte sieht.

Das Urteil wird entscheidend davon abhängen, was die Sachverständigen und vor allem die Ärzte aus Berlin und der Schweiz aussagen. Hatten sie Michael M. gegenüber eine Fahruntauglichkeit deutlich gemacht und ihm ein Fahrverzicht aus medizinischer Sicht auferlegt? Von einem Freispruch bis zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren ist daher alles möglich.

Quelle: ntv.de, tar

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