Gesicht des Widerstands Sophie Scholl wird durch Brüche menschlich
09.05.2021, 09:45 Uhr
Das Grab von Sophie Scholl auf dem Münchner Friedhof am Perlacher Forst.
(Foto: imago images/Winfried Rothermel)
Sophie Scholl bezahlt 1943 ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus mit dem Leben. Zu ihrem 100. Geburtstag bekommt das lange gepflegte Bild der Märtyrerin Risse und sichtbar wird der Mensch Sophie Scholl - eine Grübelnde, Zweifelnde, sich selbst immer wieder Hinterfragende.
Ihren letzten Geburtstag feiert Sophie Scholl am 9. Mai 1942. Kurz zuvor ist sie nach München gekommen, um Biologie und Philosophie zu studieren. Sie wird 21 und hat das Gefühl, ihr Leben kann endlich losgehen. Immer wieder wurde sie von Dienstpflichten des nationalsozialistischen Staates ausgebremst. Ihren 22. Geburtstag erlebt sie nicht mehr. Am 22. Februar 1943 stirbt sie unter der Fallschwertmaschine, wie Nazideutschland die Guillotine nennt.

Ein Symbol für den Widerstand gegen die Nazis: Sophie Scholl.
(Foto: picture alliance / Photo12/Archives Snark)
Vier Tage zuvor war sie zusammen mit ihrem Bruder Hans in der Münchner Universität festgenommen worden. Sie hatten Flugblätter ihrer Widerstandsgruppe Weiße Rose verteilt. Zu ihrem 100. Geburtstag fasziniert Sophie Scholls Schicksal noch immer. Die Historikerin Miriam Gebhardt ist davon nicht überrascht. "Allein die Tatsache, dass sie so jung war, lädt bis heute zur Identifikation ein", sagt sie ntv.de. Sophie Scholl - das ist im kulturellen Gedächtnis Deutschlands heute die "junge Frau, die dem übergroßen Präsidenten des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, die Stirn geboten hat und unter dem Fallbeil gestorben ist".
Gebhardt hat für ihr 2017 erschienenes Buch "Die Weiße Rose. Wie aus ganz normalen Deutschen Widerstandskämpfer wurden" in den Biografien von Hans und Sophie Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf und Kurt Huber nach den individuellen Wurzeln des Widerstands geforscht. Dafür sichtete sie auch Sophie Scholls Briefe und Tagebücher. "Für mich war es sehr anrührend in den handschriftlichen Dokumenten zu lesen, weil man sie als Kind kennenlernt, das sehr gut gezeichnet und sich Blümchen an den Rand ihres Tagebuchs gemalt hat. Und später dann als junges Mädchen, das einen pubertierenden Umgang mit seinem Freund hatte, das gut Klavier und Flöte gespielt hat und unheimlich gern in Seen geschwommen ist."
Karriere beim BDM
Doch trotz der dem NS-Regime kritisch gegenüberstehenden Eltern ist Sophie Scholl zunächst vom Nationalsozialismus angezogen. Sie folgt darin den älteren Geschwistern und wird Mitglied der Hitlerjugend, später steigt sie im Bund Deutscher Mädel bis zur Scharführerin auf. "Dort wurde ihr klar, auch wenn sie Anführerin einer größeren Gruppe von Mädchen ist, heißt das nicht, dass sie die Richtung bestimmen kann", sagt Gebhardt. "Denn natürlich war die HJ eine extrem autoritäre Einrichtung, wo man nicht frei war, welche Lieder man singt, welche Reise man macht oder um welche Uhrzeit man zu welchem Aufmarsch erscheint."
Aus ihrem Elternhaus ist es Scholl gewohnt, dass Konflikte diskutiert und ausgefochten werden. "Danach zerbrach nicht die Beziehung zu den Eltern, sondern sie haben eine Lösung gefunden, um weiterzumachen", beschreibt Gebhardt. Aber das nationalsozialistische System ist daran nicht interessiert. Scholl wendet sich vom BDM ab und wird später in den Gestapo-Verhören aussagen, dass sie "den Dienst langweilig und vom pädagogischen Standpunkt aus unrichtig fand".
Je älter sie wird, umso mehr sucht sie auch die intellektuelle Auseinandersetzung. Gemeinsam mit dem Bruder Hans und dessen Freunden liest sie alle möglichen Texte und setzt sich intensiv mit Fragen der Moral, der Bürgerpflichten und des Glaubens auseinander. "Sie macht sich immer mehr klar, dass es eine moralische Pflicht gibt, sich als Deutsche diesem System entgegenzustellen", fasst Gebhardt diese Entwicklung zusammen. Als sich die Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad abzeichnet, ist ihr klar, dass Deutschland den Krieg nicht gewinnen kann. Zu dem Zeitpunkt ist aus Sophie Scholl schon längst eine Widerstandskämpferin geworden.
Mensch nicht Märtyrerin
Aus Sicht der Historikerin machen Scholl heute gerade ihre Brüche, ihre Ambivalenzen so interessant. Nach dem Kriegsende habe man die junge Frau noch ganz anders gesehen. In den 1960er-Jahren sei Sophie Scholl fast zu einer Märtyrerin mit übermenschlichen Kräften stilisiert worden. "Vielleicht ist das eine Anschlussmöglichkeit der Gegenwart, dass man sie mehr als Mensch aus Fleisch und Blut wahrnehmen kann."
Geradezu lebendig wird Scholl gerade in einem Projekt von SWR und BR. Auf Instagram wird unter @IchbinSophieScholl in den kommenden Monaten in Echtzeit die Zeit von ihrer Ankunft in München bis zu ihrer Verhaftung erzählt. Die Schauspielerin Luna Wedel verkörpert dabei Scholl. Dahinter steht die Idee, was die junge Frau in diesen schicksalsträchtigen Monaten gepostet hätte, wären Instagram und Handys schon erfunden gewesen. Die Macher kündigten bereits an, dass die Erzählung am Tag der Verhaftung abbrechen werde, denn in das Gefängnis und zur Hinrichtung könne man eben kein Handy mitnehmen.
Schon nach wenigen Tagen hat der Account fast 400.000 Follower, obwohl es bisher vor allem um den Aufbruch ins Studium, die Geschwister und natürlich Scholls Liebsten Fritz Hartnagel ging. Eine Userin schreibt: "Sophie Scholl fühlt sich gerade so nah an und eben das macht mir auch Angst. Auf einmal stecken wir mittendrin in der Geschichte, obwohl Vergangenheit, plötzlich so real."
Teil der Gruppe
Miriam Gebhardt findet es großartig, wenn mit neuen Medien und neuen Erzählformen an Sophie Scholl erinnert wird. "Damit wird ja auch immer wieder einer neuen Generation ein Zugang geschaffen." Sie würde sich allerdings wünschen, dass man dabei die ganze Gruppe der Weißen Rose in den Blick nimmt. "Damit kann niemand zufrieden sein, wenn sich in einem populären Erinnern die Fakten verschieben. Es wäre nicht richtig, wenn Sophie Scholl dabei so sehr überhöht wird, dass es weder ihr noch den anderen gerecht wird."
Denn darin sind sich die Historiker inzwischen einig: Die Weiße Rose hatte bereits im Sommer 1942 zunächst mit den Flugblattaktionen von Hans Scholl und Alexander Schmorell ihren Kampf aufgenommen. Sophie Scholl stieß dann nach ihrem Studienbeginn zu der Freundesgruppe. Sie könnte frühzeitig eingeweiht gewesen sein, organisierte im Spätsommer eine Vervielfältigungsmaschine, während die jungen Männer an der Front waren, und kümmerte sich wohl auch um die Finanzen. Den Widerstand hätte es aber auch ohne sie gegeben.
Trotzdem ist Gebhardt absolut überzeugt davon, dass es richtig ist, Sophie Scholl bis heute "für ihr Sein" zu feiern. "Wir brauchen die Erinnerung an sie, weil es bis in die Gegenwart wichtig ist, uns zu versichern, dass nicht alle Deutschen Nazis waren und dass es möglich war, Widerstand zu leisten." Für sie ist Sophie Scholl eine Grübelnde, Zweifelnde, sich selbst immer wieder Hinterfragende. "Sie hat ständig darüber nachgedacht, was richtig und was falsch ist. Was man anderen antun kann und was nicht. Sie hat sich immer wieder über ihre eigenen Motive Rechenschaft abgelegt, sie hat mit ihrem Glauben gehadert." In der Verzweiflung ihrer letzten Lebensmonate habe Scholl versucht über das Gebet Kontakt zu Gott herzustellen und sei damit gescheitert. "Sie hat sich dann unglaublich allein und verlassen gefühlt."
Ihr Widerstand habe Sophie Scholl wahnsinnig viel Kraft gekostet. "Sie hatte keine Armee, keine soziale Bewegung, kein soziales Milieu hinter sich. Sie war ein ganz normales Mädchen, eine Studentin, die eigentlich auch ihr Leben leben wollte, die verliebt war." Noch am Tag ihrer Verurteilung werden Christoph Probst, Sophie und Hans Scholl hingerichtet. Der Scharfrichter Johann Reichhart sagt später, er habe noch nie jemanden so tapfer sterben sehen wie Sophie Scholl. "Das war kein selbstverständlicher Gang für sie - bis zum Schafott -, sondern sie hat jede Minute darüber nachgedacht, ob sie richtig oder falsch lag", sagt Gebhardt. "Das alles hat sie abgewogen gegen ihr moralisches Gewissen und hat sich dann für ihr moralisches Gewissen entschieden."
Quelle: ntv.de