Zweifel an Verhältnismäßigkeit Stöhr hält 100er-Notbremse für irreführend
14.04.2021, 08:38 Uhr
Düsseldorf am Abend: Übliche Straßenszene in der Pandemie.
(Foto: imago images/Michael Gstettenbauer)
Die Bundesregierung stellt die bundesweite Notbremse als überfällige Rettungsmaßnahme in der dritten Welle dar. Doch es gibt auch andere Sichtweisen. Der Ex-Chef-Virologe der Charité Krüger und Epidemiologe Stöhr erklären, statt auf irreführende Inzidenzen sollte die Politik endlich auf Erkrankungen schauen.
Die wissenschaftlichen Bedenken gegen das Notbremsen-Gesetz der Bundesregierung sind beträchtlich. Während der aktuelle Chef-Virologe der Charité, Christian Drosten, die Regelungen nicht für ausreichend hält, um die Lage auf den Intensivstationen zu entschärfen, hadert sein Vorgänger Detlev Krüger mit der Bemessungsgrundlage. In einem offenen Brief an den Deutschen Bundestag warnen er und der ehemalige WHO-Experte Klaus Stöhr eindringlich vor der vom Bundeskabinett angestrebten Veränderung des Infektionsschutzgesetzes. "Wir raten dringend davon ab, bei der geplanten gesetzlichen Normierung die '7-Tages-Inzidenz' als alleinige Bemessungsgrundlage für antipandemische Schutzmaßnahmen zu definieren", schreiben Krüger und Stöhr in ihrem Brief, den die "Welt" veröffentlicht.
Krüger leitete das Virologische Institut der Berliner Charité fast 30 Jahre, bis 2017 sein Nachfolger Christian Drosten die Stelle übernahm. Stöhr ist ehemaliger Leiter des Globalen Influenza-Programms der Weltgesundheitsorganisation (WHO). In ihrem Schreiben erklären die beiden Wissenschaftler, dass die Inzidenz als Basis für Lockdown-Beschlüsse irreführend sei. Der Inzidenzwert gebe "aufgrund der durchaus erwünschten Ausweitung von Testaktivitäten zunehmend weniger die Krankheitslast in der Gesellschaft wieder", schreiben die Experten. "Die im Gesetzesvorhaben vorgesehene 7-Tages-Inzidenz differenziert nicht, in welchen Altersgruppen, Lebensräumen und Bevölkerungsgruppen Infektionen auftreten. Eine gleich hohe Inzidenz kann dramatisch unterschiedliche Bedeutung haben."
So sei es möglich, dass selbst dann, wenn es weniger Patienten in Krankenhäusern als bei Grippewellen gebe, "massive Einschränkungen der Freiheitsrechte mit gravierenden Auswirkungen auf Wirtschaft, Kultur und die körperliche und seelische Gesundheit erfolgen müssten". Ein solches Szenario sei mit dem Fortschritt der Impfkampagne "realistisch und zeitlich absehbar".
Gesetz verschärft "Mangel an Sachbezug"
Statt auf die Inzidenz sollte die Politik sich auf die täglichen Neuaufnahmen auf den Intensivstationen konzentrieren, schreiben Stöhr und Krüger. Nicht Infektionen, sondern Erkrankungen und ihre Schwere seien für Lockdown-Maßnahmen wichtig. Nur so könne das tatsächliche Infektionsgeschehen und die Auslastung der Krankenhäuser überhaupt angemessen in den Blick kommen. Die geplante bundesweite Vereinheitlichung des Infektionsschutzgesetzes verschärfe "den Mangel an Sachbezug und die Gefahr einer Verletzung der Verhältnismäßigkeit", heißt es in dem Brief weiter.
Dass eine Kopplung an die von Stöhr und Krüger vorgeschlagenen Werte einen Lockdown derzeit überflüssig machen würde, ist allerdings unwahrscheinlich: Laut DIVI-Register, das vom Robert-Koch-Institut und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin betrieben wird, waren zuletzt nur noch zwölf Prozent der 23.905 zur Verfügung stehenden Intensivbetten frei. 4688 davon sind mit Covid-Patienten belegt. Auf dem Höhepunkt der zweiten Welle waren es 5762 Patienten. Wie alt die behandelten Patienten sind, wird bislang nicht systematisch erfasst. Da das Durchschnittsalter der Infizierten sinkt, ist davon auszugehen, dass auch die Menschen auf den Intensivstationen jünger werden.
Der Beschluss des Bundeskabinetts koppelt Freiheitsbeschränkungen wie Ausgangssperren und Schließungen an die Inzidenz von 100, die erstmals bundesweit einheitlich gesetzlich verankert werden soll. Ab einem Wert von 200 müssten auch die Schulen schließen. Nach dem Kabinettsbeschluss wird sich der Bundestag am Freitag erstmals mit der Vorlage befassen, er soll das Gesetz dann ebenso wie der Bundesrat in der kommenden Woche beschließen. Danach muss es noch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unterzeichnen, damit es in Kraft treten kann.
Quelle: ntv.de, mau/ino