"Enshittification" & Co. Beschissene Wörter in beschissenen Zeiten


In London wird für sauberes Wasser demonstriert, weil man droht, in Schei*e zu ertrinken ...
(Foto: IMAGO/ZUMA Press Wire)
So haarsträubend war der Wettbewerb "Wort des Jahres" noch nie! "Brainrot" beschreibt den Hirntod durch zu viele Netzinhalte, "Enshittification" den Niedergang der Kultur. Das deutsche "Ampel Aus" ist dagegen nur ein kindischer Klospruch. Und normalerweise drückt sich unser Autor gewählter aus ...
Leidet Ihr Gehirn schon unter Fäulniserscheinungen - ein Kribbeln am Hinterkopf vielleicht, ein dumpfer Schmerz oder gar ein fauler Geruch, der aus den Ohren kommt? Dann könnten Sie einem Trend folgen und wären in bester Gesellschaft: Denn kein Geringerer als der Verlag der renommierten Universität Oxford, in im dem auch das "Oxford English Dictionary" erscheint, hat kürzlich "brainrot" zum "Word of the Year 2024" gekürt. Es wird "Bräinrott" gesprochen und bedeutet wörtlich "Hirnfäule". Die schlaue Wörterbuchredaktion stützt sich auf Hashtags und andere digitale Referenzen des Begriffs, die sich im letzten Jahr beinahe verdreifacht hätten.
Obwohl mein Hirn nicht fault - soweit ich das überhaupt noch beurteilen kann - erscheint mir die offizielle Erklärung etwas zu gequirlt: "'Brainrot' ist die angenommene Verschlechterung des geistigen oder intellektuellen Zustands einer Person, insbesondere als Ergebnis eines übermäßigen Konsums von Material (vor allem von Online-Inhalten), das als trivial oder wenig herausfordernd angesehen wird. 'Brainrot' ist zugleich das Material selbst." Heißt: Wer sich stundenlang durch Augen und Ohren Scheiße reinzieht, trägt am Ende einen zweiten Enddarm auf dem Hals. Was man damit noch machen kann, ist zwar intellektuell stark begrenzt, aber hat in beschissenen Zeiten einen großen Vorteil: Man versteht weniger und vergisst leichter. Zum Beispiel die sogenannte Ampel-Koalition und ihren Bruch.
Die GfDS - eher wenig aufmüpfig
Je nach Ihrem eigenen Brainrot-Stadium erinnern Sie sich vielleicht, dass die "Gesellschaft für Deutsche Sprache" (GfDS), die von Bund und Ländern finanziert wird, das "Ampel-Aus" zum deutschen "Wort des Jahres 2024" erklärt hat. Was wie ein billiger Abklatsch der internationalen "Word of the Year" Wettbewerbe wirkt, ist in Wahrheit das Original! Es war nämlich die GfDS, die 1971 zum allerersten Mal in der Welt ein Wörtchen des Jahres kürte - damals übrigens "aufmüpfig". 1991 kam das "Unwort des Jahres" hinzu. Können wir von einer solchen Tradition nicht mehr erwarten?
Abgesehen von der dämlichen Alliteration auf "A" - Sie wissen schon, zweimal derselbe Buchstabe wie "Kalter Kaffee", "dumm und dusselig" oder das brainrotige "TikTok" - sagt "Ampel-Aus" viel über deutsche Politiker zwischen Größenwahn und Wolkenkuckucksheim. Aber es bringt den - Achtung, dreifache Alliteration! - gegenwärtigen Geisteszustand unser Gesellschaft ganz und gar nicht auf den Punkt. Während "Brainrot" eine derbe aber deutliche Diagnose ist, kann man "Ampel-Aus" höchstens als ein Fuzzi-Symptom betrachten. Nicht mehr als ein Klosprüchlein.
F*ck? Shit?
Was unterdessen dafür spricht, dass ich auch schon unter Brainrot leide: Ich habe die Ampel und ihr Aus längst vergessen oder verdrängt. Angemessen vulgär ausgedrückt: Ich habe sie aus meinem Hirn ausgeschieden.
Was mich zum wirklichen Weltwort des Jahres führt: "Enshittification"! Es ist zunächst so bemerkenswert wie die unsportliche "Shithousery" - krasse Fouls auf einem Fußballplatz -, die während der letzten WM zum Trendwort wurde. Dasselbe gilt für den bei uns inflationär bemühten "Shitstorm", der englischsprachige Visitors immer wieder wundert und anekelt, weil weder in Großbritannien noch in den USA so viel Kacke durch die Öffentlichkeit fliegt wie bei uns. Der Grund ist einfach: "Shit" wird weiterhin als extremer Kraftausdruck wahrgenommen - und übertrifft "Fuck". Anders gesagt: Während wir zu Fäkalbegriffen wie "Scheiße" neigen, um zu fluchen, wird in der englischsprachigen Welt fleißig mit der Kopulation verteufelt.
"Enshittification" ist allerdings ein sprachlicher Wakeup-Call der Extraklasse: Die "American Dialect Society" erklärte das Kunstwort bereits 2023 zum "Word of the Year". Das australische Wörterbuch "Macquarie" hat 2024 dasselbe entschieden - nachdem zum ersten Mal die Fachjury und die Bevölkerung für denselben Begriff gestimmt hatten.
Der Untergang der Kultur
Ausgedacht hat ihn sich ein Journalist namens Cory Doctorow, der mit Enshittification schon seit 2022 den Niedergang der digitalen Kultur beschreibt - und schließlich unserer Kultur als Ganzes. Das Problem sei, in aller Kürze, ein großangelegter Beschiss durch Unternehmen, die anfangs vorgaben, der Menschheit zu dienen, sie mittlerweile aber mit inhaltlichem Mist einfach nur noch ausrauben. Statt besseren Ausdrucksmöglichkeiten, besseren Angeboten und weniger Gängelei zum bestmöglichen Preis sind die Nutzerinteressen längst den Interessen ihrer digitalen Diener ausgeliefert. Wer freiwillig geht, trägt dafür die Kosten.
"The Internet is a host of five giant websites, filled with text and screenshots from the other four", so Doctorow. Will sagen: Alles schreiben überall ab. Das beste Beispiel ist das 2006 gegründete "Twitter" (jetzt X), das gewissermaßen einen Exodus erlebt: Massenhaft kündigen Nutzerinnen und Nutzer. Alleine die fünf Millionen neuen Nutzer, die das Konkurrenzunternehmen Bluesky seit November gewonnen hat, sind ein Hinweis auf das Ausmaß. Doch auch Bluesky sollte sich nicht zu früh freuen, denn ihm droht laut Doctorow längerfristig derselbe Niedergang wie allen anderen Unternehmen - und überhaupt der netzaffinen Menschheit.
In seinem Beitrag "Enshittification is coming for absolutely everything" im November in der "Financial Times" prophezeit er eine "Enshittocene" - also eine Art Endzeit mit digitaler Jauche: Und hier schließt sich der Kreis: Also known as Brainrot.
Freilich muss ich hier eine Gegenthese aufstellen: Für die schnellste deutsche Nachrichtenseite im Netz gilt das alles selbstverständlich nicht!
Quelle: ntv.de