Angriffe auf Justizmitarbeiter Gerichtssaal wird immer häufiger zum Tatort
25.07.2024, 18:23 Uhr Artikel anhören
"Die Verrohung nimmt zu, die Konfliktfähigkeit schwindet", heißt es seitens des Deutschen Richterbundes.
(Foto: picture alliance / GES/Oliver Hurst)
Ein Richter, der in der Verhandlung gebissen wird, eine Axtattacke gegen einen Gerichtsvollzieher: Die Länder verzeichnen einen Anstieg von Angriffen und Verbalattacken gegen Justizbeschäftigte. Mit verschiedenen Mitteln wird nun versucht, sie zu schützen.
Ein Justizwachtmeister wird von einem Angeklagten gebissen. Bei einer zufälligen Begegnung auf einem Parkplatz bespuckt ein Beschuldigter den zuständigen Staatsanwalt. Während der Verhandlung springt ein Mann auf den Richtertisch und verletzt den Juristen durch Schläge und einen Biss in die Hand. Nach einem Prozess um gefälschte Corona-Atteste umstellen Leute auf der Straße ein Auto, in dem Mitglieder der Strafkammer sitzen, und rütteln schimpfend an der Tür. Ein Gerichtsvollzieher wird mit einer Axt attackiert. Derartige Angriffe sind keine Einzelfälle mehr, wie eine Umfrage bei der Justiz ergab.
Nach einem Bericht der "Deutschen Richterzeitung" reagieren Prozessbeteiligte und Zuschauer emotionaler. Statistiken über Beleidigungen, Bedrohungen oder körperliche Angriffe auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Justiz gibt es zwar nicht in allen Bundesländern. Doch der Eindruck ist überall gleich: Bedrohungslagen und kritische Situationen in den Gerichten haben zumindest subjektiv zugenommen. "Die Verrohung nimmt zu, die Konfliktfähigkeit schwindet", sagt Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes.
Zahlen aus Bayern zeichnen ein deutliches Bild: Von Juli 2022 bis Juni 2023 wurden nach Angaben des Justizministeriums bei Gerichten, Staatsanwaltschaften, Justizvollzug und Gerichtsvollziehern 541 Vorfälle registriert. Dies sei ein erheblicher Anstieg im Vergleich zum Jahr 2020 mit 304 Fällen, teilte ein Sprecher mit.
Anstieg in mehreren Bundesländern
Das benachbarte Baden-Württemberg verzeichnete laut "Deutscher Richterzeitung" 2023 landesweit 126 Beleidigungen, Bedrohungen oder Angriffe gegen Justizvertreter. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres waren es 56. Das Justizministerium in Stuttgart berichtet von insgesamt 177 sicherheitsrelevanten Vorfällen, die über ein internes Meldewesen erfasst worden seien. Dabei seien aber auch Vorfälle zum Nachteil weiterer Verfahrensbeteiligter wie zum Beispiel Zeugen erfasst.
Auch in Berlin gibt es seit 2019 laut Senatsjustizverwaltung ein standardisiertes Meldewesen. "Verbale Auseinandersetzungen mit Publikum, welche teilweise auch aggressiv verlaufen, gehören mittlerweile leider zum gerichtlichen Alltag, sodass diese von den Richterinnen und Richtern im Regelfall nicht gemeldet werden", teilte eine Sprecherin mit. Von zunehmend aggressiven Besuchern seien vor allem Justizwachtmeister bei Einlasskontrollen betroffen. Für Niedersachsen liegen dem vom Richterbund herausgegebenen Blatt Zahlen für den Bezirk des Oberlandesgerichts Celle vor: Demnach gab es im vergangenen Jahr 81 Vorfälle, im ersten Quartal 2024 waren es 35.
Die Beschäftigten verzeichneten insbesondere seit der Corona-Pandemie eine wachsende Respektlosigkeit, heißt es vom Richterbund. "Häufig sind es Menschen aus der Reichsbürgerszene, aggressive Staatsgegner oder Corona-Leugner, die in den Gerichten und gegenüber Gerichtsvollziehern bedrohlich auftreten oder die Arbeit der Justiz massiv behindern", sagte Rebehn. "Erschreckend ist auch, wenn Richterinnen und Richtern in den sozialen Medien wegen ihrer Urteile unverhohlen mit Gewalt gedroht wird, wie es kürzlich einer Hamburger Strafrichterin widerfahren ist."
Gerichtsvollzieher tragen besonderes Risiko
Besonders häufig von Attacken betroffen sind bundesweit Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher, wie es von den Justizbehörden heißt. Sie treffen Menschen oft in Extremsituationen wie Zwangsräumungen an - und sind dabei auch körperlicher Gewalt ausgesetzt. Gleichwohl suchen nach Schätzung des Berliner Gerichtsvollziehers Martin Graetz in 99 Prozent der Fälle seine Kolleginnen und Kollegen die Schuldner ohne Polizeibegleitung auf. "Eine gewisse Bedrohungssituation gehört gewissermaßen zum Geschäft", berichtet der Landesvorsitzende der Obergerichtsvollzieher im Kammergerichtsbezirk.
Rund 270 Gerichtsvollzieherinnen und -vollzieher sind nach seinen Angaben in der Hauptstadt unterwegs. Graetz vermutet, dass jeder Zweite schon eine bedrohliche Situation erlebt hat. Er selbst wurde vor etwa 13 Jahren von einem Schuldner mit der Axt am Arm verletzt. "Ich gehe seitdem etwas anders mit der Situation um und trage beispielsweise eine Schutzweste", berichtet der 52-Jährige. Nach psychologischer Unterstützung habe er aber seine Tätigkeit fortsetzen können.
"Wir stellen einen Anstieg der uns bekannten Fälle fest", sagt Detlef Hüermann vom Sozialwerk des Deutschen Gerichtsvollzieherbundes. Viele Vorfälle würden jedoch gar nicht gemeldet - und die Kolleginnen und Kollegen würden in der Regel auch sofort wieder den Dienst aufnehmen wollen. Erst kürzlich sei ein Gerichtsvollzieher mit einer geladenen Armbrust an der Tür empfangen worden. "Der hat das gemeldet - und wollte gleich weitermachen", so Hüermann. Ein paar Tage später habe er jedoch bemerkt, dass er das Erlebte doch noch verarbeiten müsse.
Sicherheitskontrollen und Schutzwesten
Die Justiz versucht die Beschäftigten mit verschiedenen Mitteln zu schützen. Bundesweit gibt es bei Gerichten Kontrollen an den Eingängen, die denen an Flughäfen gleichen. Vielerorts wurden Gerichtssäle modernisiert und gesichert, Briefe und Gepäck werden durchleuchtet. Zudem kann die Justiz Hausverbote für gefährliche Personen verhängen. In Sachsen-Anhalt hat eine Staatsanwaltschaft dies seit 2023 achtmal gemacht, wie ein Sprecher des Justizministeriums sagte.
In Nordrhein-Westfalen wurden im vergangenen Dezember in Köln die ersten von landesweit 750 Schutzwesten für Gerichtsvollzieher übergeben. Der Verband dort hatte seit Jahren darauf gedrängt. Auch in Berlin hält man solche Schutzwesten für "wünschenswert", wie Gerichtsvollzieher Graetz sagte. In Rheinland-Pfalz gibt es ein Sicherheitstraining für Gerichtsvollzieher, das auch bei den landesweiten Aktionstagen für Respekt gegenüber Beschäftigten des öffentlichen Dienstes im vergangenen Mai gezeigt wurde.
Quelle: ntv.de, Marion van der Kraats, dpa