Eine Spurensuche Was ist dran am "alten weißen Mann"?
03.11.2024, 19:25 Uhr Artikel anhören
Für den "alten weißen, bürgerlichen, heterosexuellen, nicht-behinderten Mann im Nordwesten der Welt" sei es neu, als Gruppe markiert zu werden, sagt die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky.
(Foto: Soeren Stache/dpa)
Ein neuer Kinofilm verwitzelt den "alten weißen Mann". In der Debatte um diesen Typus vermischen sich Politik, Polemik und Irrtümer. Ein Aufklärungsversuch.
Vor einigen Tagen geschah es wieder - es wurde von der Sichtung eines Archetypen berichtet. Thomas Gottschalk war auf Werbetour für sein Buch "Ungefiltert" - und dabei unter anderem in der WDR-Talkshow "Kölner Treff" gelandet. Dort berichtete der einstige "Wetten, dass..?"-Moderator, dass sich die Zeiten für ihn verändert hätten. "Ich habe ja früher relativ spontan reagiert", sagte der 74-Jährige. "Heute ist es so, dass ich erst einmal nachdenke, bevor ich etwas sage." Für ihn sei das "schlimm". Das sei eine "Zäsur".
Wer parallel zu Gottschalks Auftritten durch die Kommentarspalten mäanderte, stieß bei jenen, die Gottschalks Äußerungen - milde gesprochen - nicht sonderlich toll fanden, immer wieder auf einen Begriff: alter weißer Mann. "Alte weiße Männer, die reichweitenstark in allen Medien rumjammern (dürfen), dass sie nichts mehr sagen dürfen", schrieb ein User beim Kurznachrichtendienst Threads. "Kannste dir nicht ausdenken."
Eine andere Userin schloss sich der 57-jährigen Schauspielerin Natalia Wörner an, die Gottschalk ziemlich direkt gesagt hatte, dass sie sich wünsche, dass Männer mit dem Älterwerden Dinge neu reflektierten. Kommentar: "Besser als sie kann man solchen alten weißen Männern doch nicht die Hosen runterziehen."
Gottschalk selbst wiederum erklärte später in einem anderen Gespräch mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung": "Ich bin kein alter weißer Mann, der beklagt, dass die Dinge nicht mehr so sind wie früher." Man konnte etwas den Überblick verlieren, wo die Front nun gerade genau verläuft.
Woher kommt der Ärger?
Was sich feststellen lässt: Der alte weiße Mann hat wieder Hochkonjunktur, nicht nur durch die Exegese von Showlegenden-Interviews. Ein aktueller Kinofilm heißt genau so: "Alter Weißer Mann". Der 60-jährige Schauspieler Jan-Josef Liefers spielt darin einen Familienvater mit dem schönen Alter-weißer-Mann-Namen Heinz, der alles daran setzt, um dem Klischee nicht mehr länger zu entsprechen.
Neu ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff gleichwohl nicht. Die heute 30-jährige Autorin Sophie Passmann brachte schon vor Jahren ein Buch mit dem Titel "Alte weiße Männer" heraus. Untertitel: "Ein Schlichtungsversuch".
Es liegt also etwas in der Luft oder auch im Argen, je nach Betrachtungsweise. "Alter weißer Mann" ist nicht nur Chiffre für eine ganze Reihe von Eigenschaften geworden, sondern auch eine Art Kampfbegriff. Wer ihn einführt, will meist nicht schlichten.
Unwillen zur Veränderung, mangelndes Bewusstsein für die eigenen Privilegien und verdrängende Präsenz - das sind die Vorwürfe, die bei dem Begriff, der seine Wurzeln in den USA hat, mitschwingt. Und natürlich geht es auch um Machtstrukturen in der Gesellschaft. Die so bezeichneten alten weißen Männer geben sich wiederum oft recht gekränkt. Insgesamt wirkt die Lage ziemlich krampfig. Weshalb Aufklärung gar nicht schlecht ist.
Die Formulierung "alter weißer Mann" sei eine Abstraktion, sagt die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky. "So wie man über 'die' Deutschen spricht, über 'die' Touristen oder 'die' Birkenstock-Träger", sagt sie. Es gehe um eine Verdichtung und Zuspitzung - manchmal auch polemischer Natur. Man könnte auch von einer Karikatur sprechen.
Was zugleich bedeutet: Ein gewisser Bezug zur Realität ist vorhanden, denn jede gute Karikatur hat reale Elemente. Sprich: Nicht jeder individuelle alte weiße Mann ist tatsächlich resistent gegen Veränderungen und Anhänger eines patriarchalen Weltbildes. Aber als Gruppe stimme das womöglich schon.
"Die Empfindlichkeiten sind sehr groß"
Trifft eine derart zugespitzte Verallgemeinerung auf eine - zumindest wahrgenommene - konkrete individuelle Lebensrealität, kann daraus ein Störgefühl entstehen. "Das ist der Konflikt, den wir mitunter beobachten können. Leute fühlen sich von der Formulierung adressiert und sagen: Ich bin vielleicht alt, weiß und ein Mann - aber ich bin nicht das, was damit unterstellt wird", sagt Villa Braslavsky, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrt.
Eigentlich müsse man genügend Selbstdistanz aufbringen können, um zu erkennen, dass man in den Augen anderer einer bestimmten Gruppe zugerechnet wird, über die gewisse Stereotypen existieren. Das gehöre zum Leben als Erwachsener. "Aber die Empfindlichkeiten sind sehr groß", sagt die Soziologin. Das kenne sie durchaus auch von sich selbst und von Gruppen, denen sie angehöre.
Die Erfahrung, "markiert zu werden"
Hinzu kommt, dass es für alte weiße Männer historisch betrachtet ein recht neues Gefühl ist, als spezifische Gruppe betrachtet zu werden, denen man eine Reihe von mehr oder minder nachteiligen Eigenschaften zuschreibt. "Es gab historisch sehr viele markierte Personen und Gruppen: 'die Feministinnen', 'die Wilden‘ und andere. Mal karikierend, mal abwertend, mal exotisierend. Nur eben 'der weiße alte Mann' nicht", erklärt Villa Braslavsky. "Oder noch spezifischer: Der alte weiße, bürgerliche, heterosexuelle, nicht-behinderte Mann im Nordwesten der Welt." Für diesen Typus sei es neu, als Gruppe überhaupt "spezifisch" markiert zu werden. Jahrhundertelang wähnte er sich als Teil des Allgemeinen, des Universellen.
"Das, was nun bei der Formulierung 'alter weißer Mann' mitschwingt, ist: Merke, dass du auch eine Partikulargruppe bist", sagt die Soziologin. Und daraus entstehe oft Unbehagen und Widerstand. "Wir alle mögen es nicht, wenn wir als Teil einer Gruppe, als Teil einer Kategorie adressiert werden."
Womöglich dient ein lustiger Kinofilm wirklich der Entspannung der Debatte. Wobei Regisseur Simon Verhoeven schon klargemacht hat, wie er die Sache sieht. "Ich denke schon, dass man sich als Mensch mit über 70 auch noch ein bisschen weiterentwickeln kann", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Werte und Sensibilitäten änderten sich im Laufe der Jahrzehnte. Er ist allerdings auch erst 52 Jahre alt.
Quelle: ntv.de, Jonas-Erik Schmidt, dpa