Palmer und Federle bei ntv "Wenn wir nicht einschreiten, kommt die Triage"
04.11.2021, 14:55 Uhr
Auch in Tübingen, das einen eigenen Weg in der Pandemie beschreitet, spitzt sich die Situation zu. Oberbürgermeister Palmer rät dringend dazu, Tests wieder kostenlos anzubieten. Pandemiebekämpferin Federle berichtet von Menschen, die jetzt ihre Ängste überwinden und sich doch noch impfen lassen.
ntv: Frau Dr. Federle, wie dramatisch ist die Situation aktuell aus medizinischer Sicht?
Lisa Federle: Die Situation ist ziemlich dramatisch und wenn wir nicht einschreiten, dann werden wir auf eine Triage zulaufen. Das heißt, die Intensivstationen füllen sich und wenn sie zu voll sind, dann musst du irgendwann triagieren. Ich glaube, dass kein Arzt in so eine Situation kommen möchte.
Herr Palmer, Tübingen hat viele Wege ausprobiert, mit der Pandemie umzugehen. Jetzt kann am gesellschaftlichen Leben nur teilnehmen, wer geimpft, genesen oder getestet ist - mit dem teuren PCR-Test. Muss das sein?

Mit einer extensiven Teststrategie hatte die Pandemiebeauftrage Lisa Federle den "Tübinger Weg" vorgegeben. In der schwäbischen Stadt ist der Grüne Boris Palmer Oberbürgermeister.
(Foto: picture alliance / Eibner-Pressefoto)
Boris Palmer: Ganz so ist es ja nicht in Baden-Württemberg. Der "2G+PCR"- Bereich ist jetzt mit der Warnstufe eingeführt und ausgeweitet worden, das stimmt. Aber es sind ja nicht alle Bereiche davon betroffen. Die Frage, ob das sein muss, würde ich so beantworten: Da, wo ein großes Infektionsrisiko besteht, da muss es sein. Zum Beispiel kann man nicht im vollen Kinosaal sitzen und nicht geimpft sein. Oder in die Diskothek gehen, ohne Maske eng beieinander, und nicht geimpft sein. Das ist einfach viel zu riskant und da würden ja auch Geimpfte sich durchaus anstecken können. Andere Bereiche, in denen das Infektionsrisiko niedrig ist und Abstand und Maske helfen, sollten für alle zugänglich bleiben. Da denke ich insbesondere an den Einzelhandel.
Müssen die Tests also wieder kostenlos verfügbar sein?
Boris Palmer: Ja, da würde ich Robert Habeck zustimmen: Wir müssen ganz schnell wieder die kostenlosen Tests anbieten. Der Appell fürs Impfen ist richtig, aber das Dehnen der kleinen Geldbeutel über tägliche Testkosten, das spaltet meiner Meinung nach zu stark. Die kostenlosen Tests verhindern viele Infektionen, das hat Lisa Federles Konzept im letzten Winter ja bewiesen.
Frau Dr. Federle, Sie haben durchgesetzt, dass es in Tübingen weiter kostenlose Antigen-Schnelltests gibt - obwohl sie bundesweit inzwischen Geld kosten, um den Druck zu erhöhen, sich impfen zu lassen. Wie sind die Erfahrungen damit?
Lisa Federle: Circa 80 Prozent der Patienten, die sich bei uns testen lassen, sind Geimpfte. Und wir haben zunehmend Impfdurchbrüche und ich bin einfach nach wie vor der Meinung, dass jeder, wirklich jeder, die Möglichkeit haben muss, sich schnell, niederschwellig, kostenlos testen zu lassen. Es geht ja um unsere Sicherheit. Das andere ist, was man ganz klar sagen muss: Die Impfbereitschaft steigt natürlich durch die Maßnahmen. Wir haben inzwischen Wartezeiten an den mobilen Impfzentren oder Impfwägen, das ist irrsinnig. Auch in meiner Praxis habe ich täglich Patienten, die kommen und sagen, sie lassen sich jetzt doch impfen. Die haben teilweise wirklich Panik, aber sie machen's. Also mit anderen Worten, die Forsa-Umfrage trifft so nicht zu, dass sich keiner mehr impfen lässt und dass das eigentlich ausgeschöpft ist.
Die Strategie der Bundesregierung ist, den Druck zu erhöhen. Würden Sie sagen, das ist richtig? Herr Palmer, Sie sagten ja einmal, Druck erzeugt Gegendruck. Was ist Ihre Meinung, Frau Federle?
Lisa Federle: Die Leute, die eigentlich Angst hatten vor der Impfung, kommen jetzt natürlich schon. Die absoluten Gegner kommen nicht. Ich glaube, es ist nicht schlecht, dass man den Leuten klarmacht, dass es egoistisch ist, wenn ich zum Beispiel im Altersheim arbeite und mich nicht impfen lasse und dann sechs Leute sterben. Das geht nicht. Das ist nicht meine Freiheit. Ich nehme damit den anderen Menschen das Leben und das ist undenkbar. Insofern glaube ich schon, dass man einen Weg suchen muss, wie man diese Leute noch zum Impfen bringt. Man muss aber gleichzeitig trotzdem schauen, - und da gebe ich Herrn Palmer völlig recht - dass die Menschen sich einfach und schnell testen lassen können. Du kannst nicht jeden zwingen. Trotzdem ist es wichtig, dass jemand kommen kann und merkt, wenn er positiv ist.
Herr Palmer, wäre ein Lockdown für Ungeimpfte, wie er gerade in aller Munde ist, der falsche Weg?
Boris Palmer: Ja, da bin ich wirklich dagegen. Ich glaube, dass es richtig ist, dass die nationale Notlage ausläuft und dann gibt es auch keinen Lockdown für Ungeimpfte mehr. Wir haben nur noch eine ernste Lage und müssen uns halt darum kümmern, dass die Impfquote ansteigt, das ist richtig. Die Frage ist, welche Instrumente setzen wir da ein? Argumente und Überzeugungen, natürlich. Übrigens sind auch die hohen Inzidenzen bei den Ungeimpften ein ganz starkes Argument. Viele haben gehofft, das wird schon nicht mehr so schlimm und jetzt sieht man, unter den Ungeimpften haben wir weitaus höhere Fallzahlen als jemals in den bisherigen Wellen in der Gesamtbevölkerung. Ungeimpfte wissen, ihr Infektionsrisiko ist jetzt immens hoch. Das führt zu erhöhter Impfbereitschaft. Was ich falsch finde, ist es, das über den Geldbeutel zu machen, weil das sozial spaltet. Einer mit meinem Einkommen hat kein Problem, 15 Euro für einen Test zu zahlen. Wenn aber andere Leute für den Weihnachtseinkauf, die als Kassiererin arbeiten, jedes Mal 15 Euro zahlen sollen, bevor sie überhaupt den Laden betreten dürfen, dann führt das zu einem unguten Druck.
Wären Sie für eine Impfpflicht für Pflegeberufe?
Boris Palmer: Wenn wir Bereiche haben, wo es wirklich unverantwortlich ist, ungeimpft zu sein, dann muss man in der Politik so ehrlich sein und einen Impfzwang durchsetzen. Eine Impfpflicht, zum Beispiel für Beschäftigte in Altenheimen, ist vertretbar. In Amerika sind hundert Millionen Menschen, die zur Arbeit gehen, impfpflichtig. Das ist das große Land der Freiheit. Und wir trauen uns nicht mal es da anzuordnen, wo es zum Schutz der Bewohner einfach unverzichtbar ist.
Mit Lisa Federle und Boris Palmer sprach Mara Bergmann
Quelle: ntv.de