
Anne Frank und ihre Familie versteckten sich mehr als zwei Jahre vor den Nazis, bevor sie verraten wurden.
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Ein neues Buch kommt zu der Schlussfolgerung, ein jüdischer Notar habe "mit mehr als 85 Prozent Wahrscheinlichkeit" 1944 das Amsterdamer Versteck der Familie Frank verraten. Die Empörung ist groß - und die Kontroverse über die These notwendig.
"Mit Schreiben werde ich alles los. Mein Kummer verschwindet, mein Mut lebt wieder auf", vertraute Anne Frank im April 1944 ihrem Tagebuch an. Als "die große Frage" fügte sie an: "Werde ich jemals etwas Großes schreiben können?" Ihr Wunsch, "Journalistin und Schriftstellerin" zu werden, ging genauso wenig in Erfüllung wie ihr Traum von einem Leben wieder in Freiheit. Das jüdische Mädchen starb zwei bis drei Monate vor Kriegsende an Hunger und Krankheiten im KZ Bergen-Belsen.
"Etwas Großes", das ist gewiss, hat Anne Frank aber hinterlassen. Ihr Tagebuch ist als historisches Dokument von überragender Bedeutung. Das Haus in Amsterdam, in dem sich die Jugendliche mit ihren Eltern, ihrer Schwester und vier Bekannten der Familie Frank zwei Jahre lang vor den Nazis versteckte, besuchen jedes Jahr mehr als eine Million Menschen. Das Schicksal des freundlichen, klugen und überaus emotionalen Mädchens berührt bis heute, nicht nur, weil es dem Wahnsinn der Nazis zum Opfer fiel, sondern weil das Versteck mutmaßlich verraten worden ist und der Denunziant nie ausfindig gemacht werden konnte.
Rund fünf Jahre hat ein Team um den Ex-FBI-Agenten Vince Pankoke nach Vorbild eines "Cold Cases", also eines jahrelang ungelösten Kriminalfalls, versucht, den Verräter zu finden und den jüdischen Notar Arnold van den Bergh als Verdächtigen benannt. Die renommierte kanadische Autorin Rosemary Sullivan machte daraus ein Buch "The Betrayal of Anne Frank" ("Der Verrat an Anne Frank"), das seit seinem Erscheinen bei HarperCollins scharf attackiert wird. Der Anne-Frank-Fonds in Basel moniert mehr als hundert Fehler unterschiedlicherer Grade.
Pankoke wird Oberflächlichkeit und Ignoranz von Fakten vorgeworfen, die seiner These widersprechen. Umstritten ist vor allem, dass van den Bergh "mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 85 Prozent" der Verrat zugewiesen wird. Dabei schreibt der Rechtsstaat vor: Im Zweifel für den Beschuldigten. Die selbsternannten Ermittler berufen sich auf eine anonyme Notiz aus der Zeit unmittelbar nach dem Krieg, in der van den Bergh als Täter bezichtigt wird. Holocaust-Forscher mit Schwerpunkt Niederlande halten den Verdacht für abwegig. Sie verneinen das von Pankoke angenommene Motiv, van den Bergh habe sich den Nazis andienen wollen, um selbst der Deportation zu entgehen. Aus ihrer Sicht ergibt das keinen Sinn, da der Notar zur Zeit des Verrats selbst untergetaucht war.
Otto Frank, der Vater der Tagebuchschreiberin, der als einziger der Hinterhausbewohner die NS-Mordmaschinerie überlebte, kannte das Schriftstück. Pankokes Team fand eine Kopie und mutmaßt, Otto Frank habe aus Sorge vor Antisemitismus den Namen des Beschuldigten verschwiegen, also den Verdacht aus der Welt halten wollen, ausgerechnet ein Jude habe seine Frau und Töchter den Nazis ans Messer geliefert.
Sorge unter Juden
Auch heute geht diese Sorge wieder um. "Jetzt ist das Stereotyp eines jüdischen Verräters wieder in der Welt. Man kann versuchen, ihm zu widersprechen, aber es wird bleiben. Und beitragen zum Judenhass überall auf der Welt", zitierte der "Spiegel" Elise Tak, die Großnichte van den Berghs. Yves Kugelmann, aktiv im Anne-Frank-Fonds, sprach in der "Süddeutschen Zeitung" von einem der "wirkungsvollsten Antisemitismus-Booster seit Langem".
Das Buch ist mit viel PR-Tamtam gepusht worden. Die forensisch-kriminologische Beweisführung macht einen Bruchteil des Werkes aus, ansonsten wird die längst bekannte Geschichte der Franks erzählt und warum dieser oder jene nicht als Verräter oder Verräterin in Frage komme. Der US-Verlag HarperCollins hat wohl völlig unterschätzt, wie akribisch die Fakten des Buches in Europa untersucht werden würden, aber auch, wie sehr das Thema emotional aufgeladen ist.
Allein die Wortwahl lässt tief blicken. Pankoke sagte, man habe keine "smoking gun", also nicht den hundertprozentigen Beweis, aber eine "warme Waffe mit leeren Patronen daneben". Das klingt nach "True Crime" im Trash-TV. Er äußerte sich "schockiert" und "bestürzt" über die "ungerechtfertigte Kritik" und beklagt sich über die Geister, die er rief. "Im Nachhinein betrachtet, war es sehr unklug von uns, den Prozentsatz von 85 Prozent Wahrscheinlichkeit in den Medien zu erwähnen."
Die "Süddeutsche" fragte, "wie es sein kann, dass so brisante Recherchen von den Verlagen, die sie veröffentlichen wollen, vorab offenbar nicht wirklich geprüft werden". Für das amerikanische Unternehmen trifft das vermutlich zu. Dass HarperCollins Deutschland - im Gegensatz zum niederländischen Verlag Ambo Anthos - das Buch zunächst zwei Monate nach der englischsprachigen Ausgabe veröffentlichen wollte, spricht eher für Vorsicht und dass dort die Fakten sehr wohl genauer gecheckt wurden (und wohl auch weiterhin werden). Normalerweise erscheinen teuer eingekaufte, für den internationalen Markt bestimmte Werke weltweit in unterschiedlichen Sprachen an ein und demselben Tag.
Erscheinen aufgeschoben
Während sich Tanja Hendriks, die Verlegerin von Ambo Anthos, erst im Nachhinein bescheinigte, eine "kritischere Haltung" vor der ersten Auflage wäre besser gewesen, weshalb der weitere Druck vorläufig gestoppt worden sei, kippte ihr Pendant von HarperCollins Deutschland, Jürgen Welte, vergangenen Freitag den 22. März als Tag der Erstveröffentlichung. Einen neuen Termin nannte er nicht. Welte kündigte eine "korrigierte, ergänzte und kommentierte deutschsprachige Ausgabe" an, damit sich Interessierte "eine eigene, unabhängige Meinung zum Buch und zu der damit verbundenen medialen Diskussion" bilden könnten.
Die Debatte wird auch das nicht beenden, der Druck auf den deutschen Ableger von HarperCollins bleiben, das Projekt zu kippen, was rechtlich vermutlich schwierig sein dürfte. Yves Kugelmann vom Anne-Frank-Fonds sagte der Deutschen Welle: "So macht sich der Verlag zum Komplizen von jenen Revisionisten, die Geschichte umdeuten, Thesen über Fakten und Wissenschaft hinten anstellen."
Meron Mendel, in Israel geborener Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, findet die vielen Einwände berechtigt, hat aber dennoch auch einen anderen Blick auf das Buch. Aus seiner Sicht ist es "mehr als ein PR-Coup". In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schrieb er: "So schlüssig die Kritik an der öffentlichkeitswirksamen Zuspitzung eines 85-prozentigen Wahrheitsgehalts sein mag, sollten wir uns der Auseinandersetzung mit den beunruhigenden, ja verstörenden Aspekten von Geschichte nicht entziehen. Es besteht die Möglichkeit, dass Anne Frank von einem Juden verraten wurde, ob uns dies gefällt oder nicht. Der Verdacht kursierte auch schon vor dieser Veröffentlichung."
"Wenn man so will, besteht das Hauptverdienst der umfangreichen Recherche darin, gezeigt zu haben, dass wir nie erfahren werden, wer das Versteck verraten hat", meinte Mendel und verwies auf die These, die das Anne-Frank-Haus seit einigen Jahren vertritt, dass die SS das Versteck bei einer Razzia nach illegalen Waren und Waffen zufällig entdeckte. Wie auch immer es war: Ermordet wurde Anne Frank von den Nazis - wie insgesamt sechs Millionen andere Juden auch.
Quelle: ntv.de