Politik

Ukraine kämpft um die Frontlinie Bachmut steckt von Norden und Süden in russischer Zange

Soldaten feuern aus einer ukrainischen Stellung bei Bachmut gegen den russischen Gegner.

Soldaten feuern aus einer ukrainischen Stellung bei Bachmut gegen den russischen Gegner.

(Foto: IMAGO/Le Pictorium)

In Bachmut wird es für die Ukrainer immer riskanter. Doch der Wille, die Stadt zu halten, ist stark. Der Versuch könnte in einem Desaster enden.

Die Lage in Bachmut ist dramatisch: Die Ukrainer verteidigen die Stadt mit Zähnen und Klauen, während die russischen Truppen es geschafft haben, einen Kessel um sie zu ziehen, der nur im Westen noch nicht ganz geschlossen ist. Gelingt es den Russen, die letzte Lücke zu schließen, könnten sie eine große Zahl von Gefangenen machen.

"Moskau würde nicht nur die Einnahme einer ukrainischen Stadt feiern", sagt Oberst Markus Reisner ntv.de, "sondern könnte vor allem Bilder in die Welt senden von mehreren Tausend Soldaten, die in Gefangenschaft geführt werden". Die Gefahr ist akut, denn von drei wichtigen Ausfallstraßen aus der Stadt haben die Russen zwei bereits unter Kontrolle, die nördliche und die südliche. Sie beschießen die Routen bereits mit Artillerie, in Kürze aber wohl auch mit Granatwerfern und direktem Flachfeuer, etwa aus Panzerkanonen oder Maschinengewehren.

Was im Norden und Süden der Stadt bereits Fakt ist, könnte auch die noch freie Straße nach Westen bald betreffen, die letzte Lebensder der Ukrainer nach draußen. "Bei russischem Artilleriefeuer könnten die ukrainischen Truppen noch versuchen, mit hohem Tempo durchzufahren", beschreibt Reisner, Kommandant des österreichischen Gardebataillons, die Gefahr, die ihnen dort droht. "Aber wenn es den Russen gelingt, Panzerkanonen oder Maschinengewehre mit Sicht auf die Straße dort in Position zu bringen, dann ist eine Bewegung fast nicht mehr möglich." Der Kessel wäre dann "operativ geschlossen".

Der Militärhistoriker vergleicht das russische Vorgehen mit dem eines Fleischwolfs. Die Kreml-Truppen versuchen, "die Ukrainer quasi anzusaugen, um sie dann zu zerstören". Aus Sicht des Experten stehen die Russen kurz davor, dass ihnen diese Taktik gelingt. Zwischen den Truppen im Norden und denen im Süden bestehen nur noch etwa vier Kilometer, "die beide Zangen voneinander trennen", so Reisner. Noch gebe es keine Bilder, "die zeigen würden, wie Konvois auf der Straße nach Westen beschossen werden".

Was passiert, wenn die Zange schließt?

Die Konsequenzen, wenn sich die Zange schließt, wären weitreichend: Zum einen würde die Logistikkette abreißen, keine Nahrung, kein Material, kein Nachschub würde die Ukrainer in Bachmut mehr erreichen. Ein Abzug der Truppen in letzter Sekunde würde bedeuten, dass die Soldaten die Stadt unter direktem Beschuss verlassen - mit sehr vielen Opfern. Wenn ein solcher Abzug nicht gelingt, könnten mehrere Tausend Soldaten, Schätzungen belaufen sich auf bis zu 9000 Mann, eingeschlossen werden.

Vor kurzem soll ein regionaler Befehlshaber der Ukrainer vor Ort an der Front gewesen sein, um sich ein Bild von der Bedrohung in Bachmut zu machen. Aus Sicht Reisners ist es ein Beleg dafür, dass in der Armee intensiv diskutiert wird, wie mit der Lage umzugehen ist. Denn es gibt drei Möglichkeiten.

Die Ukraine kann versuchen, die Einkesselung durch einen Gegenangriff gegen die zwei Zangen zu verhindern. Sie könnte jetzt auch noch die Truppen abziehen, ohne dass die Soldaten bei ihrem Rückzug über die westliche Straße unter Beschuss geraten würden. Wenn dieser Zeitpunkt verpasst wird, gibt es die dritte Möglichkeit, gewaltsam aus dem Kessel auszubrechen, was misslingen kann und in jedem Fall viele Soldatenleben kostet.

Warum also setzt die Ukraine nicht auf Sicherheit und leitet sofort den Abzug ein, solange es noch geht? Das hängt mit drei Faktoren zusammen, zwei davon militärisch, einer betrifft die Symbolik.

Was würde passieren, wenn Bachmut fällt? In den vergangenen acht Jahren, während der Kämpfe - vor allem im Donbass -, haben sich die ukrainischen Streitkräfte sehr tief und umfangreich "eingegraben". Sie schafften es, drei Verteidigungslinien zu installieren, sehr grob gesagt von Norden nach Süden. Den russischen Truppen ist es im Laufe des ersten Kriegsjahres gelungen, die erste Linie, die östlichste der drei, an mehreren Stellen zu durchbrechen.

Fällt Bachmut, ist die zweite Linie durchbrochen

Unter anderem schafften sie im Sommer einen Durchbruch bei Popasna. Dadurch konnten sie einen Kessel im Ausmaß von 40 x 40 km bilden und es gelang dadurch dem russischen Militär, die Großstadt Lyssytschansk und Severodonetsk in Besitz zu nehmen. Kiew konnte in letzter Minute seine Truppen abziehen und so eine Gefangennahme von möglicherweise tausenden Soldaten zu verhindern.

Nun ist die Situation ähnlich, die Russen versuchen, die "Festung Bachmut" einzunehmen - so nennen die Ukrainer die Kleinstadt, die einen Stützpunkt in der zweiten Verteidigungslinie bildet, westlich der Ersten. Würde Bachmut fallen, dann wäre auch die zweite Linie erstmals durchbrochen.

"Die Ukraine müsste dann all ihre Verteidigungsanstrengungen auf die dritte Linie konzentrieren, die noch weiter westlich verläuft", sagt Reisner. Die dritte Linie der Ukrainer steht gut geschützt und bei all ihren Durchbrüchen verlieren die russischen Streitkräfte eine große Zahl an Menschen und Material. Sie ziehen also deutlich geschwächt weiter. Doch würden sie schließlich an dieser dritten - und letzten - Verteidigungslinie stehen. Wenn die Truppen diese durchbrechen, liegt dahinter ungeschützt das offene Land.

Die zähe Verteidigung von Bachmut hat die Ukraine schon viel gekostet: Nach den erfolgreichen Gegenoffensiven bei Charkiw und Cherson hatte sie ursprünglich noch eine dritte Offensive geplant: gegen das besetzte Melitopol im Süden, kombiniert mit einem Angriff auf die Brücke von Kertsch, die Russland mit der Krim verbindet. Ziel war es, die russischen Kräfte dort zu isolieren.

Für die Offensive war niemand mehr da

Doch parallel zu diesen Planungen konnten die Russen den Druck im Raum Bachmut massiv erhöhen. "Dieser Druck war so stark, dass die Ukraine immer wieder Kräfte nach Bachmut abziehen musste, die eigentlich für die dritte Offensive bereitgestellt waren", sagt Militärexperte Reisner. "Bis zuletzt niemand mehr da war, mit dem man die Offensive hätte durchführen können." Bachmut bindet also Kräfte, die die Ukraine für einen dritten Angriff gebraucht hätte.

Dass Kiews Armee noch immer so hart um Bachmut ringt, hat auch mit der Symbolkraft dieses Kampfes zu tun. Ähnlich wie Mariupols lange Verteidigung zum Symbol für ukrainischen Widerstand wurde, ist auch die Schlacht um Bachmut mit Bedeutung aufgeladen. "Wir haben eine Differenz zwischen dem Willen der ukrainischen Führung, die sagt, 'Wir halten diesen Meter Boden', und der militärischen Notwendigkeit dazu", sagt Oberst Reisner.

Aus seiner Sicht sollte die Ukraine Bachmut jetzt aufgeben, um die Streitkräfte zu schützen und eine Gefangennahme zu verhindern. Moskaus Propagandabilder gefangener Soldaten wären für Kiew fatal. Die hohen russischen Verluste sprechen dafür, dass Russlands Streitkräfte ihre Kampfkraft nicht auf Dauer werden erhalten können, sie werden mittelfristig schwächer werden. Was die ukrainischen Truppen jetzt schweren Herzens aufgeben müssten, könnten sie später im Jahr in einer Gegenoffensive versuchen zurückzuerobern. Noch scheint auf ukrainischer Seite keine Entscheidung gefallen, das Zeitfenster jedoch könnte sich bald schließen.

Quelle: ntv.de

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