Politik

Ukrainische Politikerin Sovsun "Am Tag nach Putins Tod holen wir uns die Krim zurück"

imago0198764253h.jpg

Brandung an der Krim-Küste. Bliebe sie in russischer Hand, gäbe es kaum Sicherheit für die Ukraine, meint Inna Sovsun.

(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)

Die ukrainische Rada-Abgeordnete Inna Sovsun hätte nie gedacht, dass sie einmal verschiedene Panzergattungen auseinanderhalten könnte. Nun setzt sie sich für verstärkte Waffenlieferungen ein und hat in FDP-Verteidigungspolitiker Marcus Faber einen Verbündeten gefunden. Im Interview mit ntv.de erzählen Sovsun und Faber, wie sie diesen Krieg erleben.

ntv.de: Frau Sovsun, vor uns auf dem Tisch liegt ein Granatsplitter, den Herr Faber aus der Ukraine mitgebracht hat.

Sovsun: Ich habe auch einen Granatsplitter in meinem Auto. Der rutscht immer hin und her, wenn ich plötzlich abbiegen muss. Mein Partner kämpft seit dem 24. Februar im Krieg. Ich habe ihn im vergangenen Jahr kaum gesehen. Im Sommer war er ein paar Tage in Kyjiw und sagte: Ich zeige dir die Stelle, wo wir den Damm gesprengt haben, um die aus dem Norden heranrückenden Russen aufzuhalten. Dort haben wir diesen Splitter gefunden. Das war sein Geschenk.

Faber: Er steckt also nicht in deinem Auto, sondern liegt drinnen.

Faber Inna Sovsun (2).jpg

FDP-Politiker Marcus Faber und Inna Sovsun von der ebenfalls liberalen ukrainischen Partei Holos ("Stimme"). Sovsun besuchte Berlin, um sich für mehr Panzerlieferungen einzusetzen. Sovsun bat darum, die ukrainische Schreibung für die Hauptstadt ihres Landes zu verwenden, also "Kyjiw" und nicht "Kiew" - die russische Variante.

(Foto: Petersen / ntv.de)

Sovsun: Genau. Wir haben ihn nur mitgenommen, die Dinger liegen überall herum.

Faber: Inna hat mir die Geschichte erzählt, wie sie am 24. Februar morgens einen Anruf bekommen hat. Du solltest früher ins Parlament kommen, um das Kriegsrecht zu beschließen. Und dass den Abgeordneten im Anschluss Waffen ausgehändigt wurden, um die Stadt zu verteidigen.

Sovsun: Ich bin eigentlich gegen Waffen. Ich will sie nicht in meinem Haus oder in meiner Nähe haben. Und dann stehe ich plötzlich gegen Mittag des 24. Februar in einer Schlange, um eine Waffe zu bekommen. Ich dachte, dass ich sie brauchen könnte, zumindest, um mich selbst zu verteidigen. Dann rief mich mein Vater an und sagte, ich solle ihm die Waffe geben.

Und, haben Sie?

Sovsun: Ja, aber das war gar nicht so einfach. Ich hatte zwar am Ende des Tages die Waffe, aber konnte sie meinem Vater nicht bringen. Meine Eltern leben in einem westlichen Vorort von Kyjiw, ich im Norden der Stadt. Weil die Straßen in den ersten Tagen des Krieges vollständig verstopft waren, konnte ich ihm die Waffe erst geben, nachdem der Angriff auf Kyjiw abgewehrt war. Er war als Soldat für die Sowjetunion im Afghanistan-Krieg. Er weiß also, wie man damit umgeht.

Ihr Partner, wo ist er jetzt?

Sovsun: Ich habe ihm gestern geschrieben, dass ich in Berlin bin. Er schrieb zurück: Und ich bin in New York.

In New York?

Sovsun: Ja, aber in New York in der Oblast Donezk! Es gibt dort eine Kleinstadt dieses Namens, die Ende des 19. Jahrhunderts so genannt wurde. In der Sowjetunion wurde der Name geändert, aber letztes Jahr wurde sie wieder zurückbenannt. Die Stadt wurde übrigens von deutschen Kaufleuten gegründet, die wahrscheinlich eine Verbindung nach New York hatten.

Faber: New York ist im Moment kein angenehmer Ort.

Sovsun: Ja, es liegt ganz in der Nähe von Bachmut. Dort ist die Lage derzeit sehr, sehr schlecht. Wir sind stolz, dass wir die Stadt noch halten, aber wir zahlen einen sehr hohen Preis. Auch die Russen tun das. Wir verlieren dort so viele Menschen, das ist Wahnsinn. Es ist sehr intensiv. Mein Partner schrieb mir, dass sie manchmal im gleichen Haus gegen die Russen kämpfen.

Wie gehen Sie damit um?

Sovsun: Wir schreiben uns jeden Tag. Er schickt mir eine SMS und sagt mir, dass es ihm gut geht. Wenn ich nichts von ihm höre, werde ich natürlich nervös. Er hat versucht, mich zu beruhigen und hat mir gesagt, dass es nichts Schlechtes bedeutet, wenn er sich nicht melden kann. Wenn er tot wäre, würde ich einen Anruf bekommen, keine Textnachricht.

Wie können Sie überhaupt arbeiten? Auf den ersten Blick soll Kyjiw ja überraschend normal wirken.

Sovsun: Das stimmt seit der vergangenen Woche wieder. Die Menschen sind auf der Straße und es gibt wie immer viele Verkehrsstaus. Bis vor zwei Wochen hatten wir aber große Probleme mit der Energieversorgung. Die Lage hat sich jedoch gebessert, weil die Russen nicht mehr so intensiv die Kraftwerke und Infrastruktur angreifen. Während der Pandemie haben wir uns daran gewöhnt, viel von zu Hause zu arbeiten. Das tun wir weiterhin. Wenn es aber Engpässe in der Stromversorgung gibt, bereitet uns das große Probleme. Dann habe ich vielleicht vormittags ein paar Stunden Strom, meine Mitarbeiterin aber nur am Nachmittag. Das macht es schwer.

Was ist mit den Luftangriffen? Wir haben gehört, viele gehen gar nicht mehr in den Luftschutzkeller.

Sovsun: Nein, das tue ich auch nicht mehr. Außer, wenn ich im Parlament bin, dann immer. Es könnte ja ein Ziel sein. Und wenn ich mit meinem Sohn zusammen bin. In den Schulen müssen die Kinder auch bei jedem Alarm in den Keller. Manche haben aber nicht genug Platz für alle Kinder. Deswegen machen sie Wechselunterricht. In einer Woche ist die eine Klasse in Präsenz da, in der anderen eine andere. Weil sie nicht genug Platz für alle Kinder im Keller hätten.

Aber warum gehen Sie nicht in den Luftschutzkeller?

Sovsun: Am Anfang habe ich das getan. Aber wenn Sie dann stundenlang da sitzen und nichts machen können, haben Sie irgendwann genug davon. Man muss ja weitermachen. Das Risiko getroffen zu werden, ist überschaubar. In Kyjiw werden nur selten zivile Gebäude angegriffen. Das Risiko, getroffen zu werden, ist viel größer, wenn man neben militärischen Einrichtungen oder Anlagen der Energieversorgung lebt. Die Menschen gehen zwar noch in die Metro zum Schutz, aber sie schlafen dort nicht mehr. Mit meinem Sohn war ich das letzte Mal im Dezember im Luftschutzkeller.

Faber: Das liegt auch daran, dass es in Kyjiw eine funktionierende Luftabwehr gibt. Anders als beispielsweise im Süden feuern die Russen auch nicht mit unpräzisen S300-Rakten auf die Stadt, die eigentlich für Flugabwehr gemacht sind. Aber selbst in Cherson, wo es fast minütlich Artillerie-Angriffe gibt, gehen die Leute nicht in die Schutzräume. Sie sagen, dann könnten sie die Stadt ja auch verlassen.

Sovsun: Die Warnungen sind oft auch sehr vage. Wir haben eine App, die uns vor möglichen Luftangriffen informiert. Manchmal wird eine Warnung für die ganze Ukraine herausgegeben, weil in Belarus ein Flugzeug gestartet ist, das möglicherweise Raketen trägt. Davon kann man sich sein Leben nicht kaputt machen lassen.

Sie kommen aus Charkiw, wo vor allem Russisch gesprochen wird und wurde. Es ist von außen schwer zu verstehen, wie Russisch die Muttersprache sein kann, man aber trotzdem Ukrainer ist.

Sovsun: In meiner Familie wurde nur Ukrainisch gesprochen. Aber ja, in Charkiw sprechen sehr viele als erste Sprache Russisch. Das liegt auch daran, dass in der Sowjetunion viele Russen in den Osten der Ukraine umgesiedelt wurden und die ukrainische Sprache unterdrückt wurde. Menschen, die Ukrainisch sprachen, wurden als Trottel vom Land dargestellt. Im Kindergarten wurde ich noch dafür gehänselt, dass ich immer Ukrainisch sprach. Es gibt einige, die heute zwar als erste Sprache Russisch haben, aber deren Großeltern vielleicht noch Ukrainisch als erste Sprache hatten. Aber es hat sich etwas geändert. Wenn ich heute in Charkiw jemanden auf der Straße auf Ukrainisch anspreche, wird mir auf Ukrainisch geantwortet. Das hätte es früher nicht gegeben. Da wurde immer auf Russisch geantwortet. Für viele war Russland sehr nah. Das ist nach dem Angriff vor einem Jahr gekippt. Ein Bekannter sagte mir, er habe sofort Ukrainisch-Unterricht genommen, nachdem er die ersten Explosionen gehört hat. Wenn der Angreifer einerseits sagt, man sei ein Volk, dann aber versucht, dich umzubringen, ist das nicht besonders überzeugend.

Sie gehören der liberalen Oppositionspartei Holos an. Gibt es im Moment überhaupt eine Opposition? Haben sich nicht alle hinter Präsident Selenskyj versammelt?

Sovsun: Wir haben uns hinter der Armee vereinigt. Wir unterstützen alles, was die Armee benötigt, denn sie schützt unsere Leben. Wenn Selenskyj etwas tut, das der Armee hilft, unterstützen wir ihn. Sollte er einen anderen Kurs einschlagen, blieben wir bei der Armee. Vor dem 24. Februar war er nicht so pro Armee und ignorierte sie.

Ist er für Sie kein Held?

Sovsun: Mein Partner ist ein Held. Für mich sind die Soldaten Helden, die für uns kämpfen. Ich gebe aber zu, dass ich mich in ihm getäuscht habe. Vor der großen Invasion habe ich ihn sehr kritisch gesehen, aber sein Verhalten hat mich positiv überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass er nach dem Angriff in Kyjiw bleiben würde. Das war gut. Wir wären in einer ganz anderen Lage, wenn er das nicht getan hätte. Klug war auch, die militärischen Entscheidungen vollständig der Armee zu überlassen.

Herr Faber, Sie sind einer der lautstärksten Befürworter für mehr Ukraine-Hilfen. Wie hilft Ihnen der Besuch von Frau Sovsun?

Faber: Das ist sehr hilfreich. Die meisten Bundestagsabgeordneten lesen auch nur die Nachrichten und wissen zwar beispielsweise, dass es Drohnenangriffe gibt. Aber sie haben kein Gesicht dazu, sie erfahren kaum, was das für Kindergärten und Grundschulen bedeutet. Sie erfahren so, dass dieser Krieg nicht irgendwo, sondern in Europa stattfindet. Dass man damit umgehen muss und nicht einfach die Augen davor verschließen kann und hoffen, dass er bald vorbei ist.

Frau Sovsun, was versuchen Sie auf diesem Besuch zu erreichen?

Sovsun: Zunächst einmal gibt es das große Event im Café Kyiv, das vormals Café Moskau hieß, aber umbenannt wurde. Dort werde ich über die Sanktionen gegen Russland sprechen. Zum Beispiel darüber, dass es noch gar keine Sanktionen gegen Rosatom gibt, die russische Atomgesellschaft. Die Russen bauen derzeit ein Atomkraftwerk in Ungarn, also in der EU, in einem NATO-Staat. Das ist eine große Gefahr. Natürlich geht es mir aber auch um Waffenlieferungen. Ich hätte nie gedacht, einmal so viel über Waffen zu wissen, über die verschiedenen Panzerarten zum Beispiel. Jetzt, da die Entscheidung gefallen ist, Leopard-Panzer zu liefern, geht es uns darum, die Zahl zu erhöhen. 14 oder auch 18 sind nicht genug. Die Russen haben Tausende Panzer. Wir brauchen zwar nicht Tausende aber mindestens 300. Dabei versuche ich Überzeugungsarbeit zu leisten.

Wir fragen uns natürlich, wie lange dieser Krieg noch dauern wird.

Sovsun: Das tun wir auch.

Haben Sie irgendeinen Hinweis, dass es vielleicht in diesem Jahr so weit sein könnte?

Sovsun: Ich mache keine Vorhersagen. Das wäre unprofessionell. Niemand kann sagen, wie lange dieser Krieg dauern wird. Wenn wir so tun, als ob der Krieg im Sommer vorbei sein könnte, dann denken die Menschen vielleicht, man müsse nur noch abwarten. Man darf aber jetzt die Hände nicht in den Schoß legen. Man muss jetzt etwas tun. Die Leute müssen verstehen, dass die Länge des Krieges von den Waffenlieferungen abhängt. Je mehr Waffen geliefert werden, desto kürzer wird der Krieg.

Muss die Krim ein Teil der Ukraine bleiben?

Sovsun: Es gibt viele Gründe, warum die Krim ein Teil der Ukraine bleiben sollte. Sie wurde illegal annektiert, sie hat eine wirtschaftliche Bedeutung und sie ist natürlich ein Ausgangspunkt für russische Angriffe. Mariupol wurde auch deswegen so zerstört, weil die Krim in russischer Hand ist. Es gibt also keine Sicherheit für die Ukraine, solange die Krim russisch besetzt ist. Selbst wenn wir alle anderen Gebiete zurückbekommen, könnte es jederzeit zu einem neuen 24. Februar kommen. Hinzu kommt die Frage der Krimtartaren. Die tragen es ja schon in ihrem Namen - die Krim ist ihre Heimat und doch werden sie von den Russen verfolgt. Die meisten Krimtartaren mussten die Halbinsel bereits verlassen.

Andererseits ist die Krim den Russen extrem wichtig. Ist es überhaupt möglich, sie zu erobern?

Sovsun: Wenn kein Wunder passiert, ist für mich der beste Zeitpunkt der Tag, nachdem Putin gestorben ist. Das wird Russland ins Chaos stürzen, weil sie keine Nachfolgeregelung haben. Das wird die beste Gelegenheit sein. Am Tag nach Putins Tod holen wir uns die Krim zurück.

Wenn Sie nun hier in Berlin sind, was sehen Sie da?

Sovsun: Einerseits sehe ich viele ukrainische Flaggen. Das fiel mir besonders auf, als ich im vergangenen Frühjahr hier war. Es gibt aber auch die andere Seite. Auf dem Weg vom Hotel habe ich ein Graffiti gesehen, das lautete: "Das ist nicht unser Krieg". Das gibt es eben auch. Mir wird es vermutlich nicht gelingen, die zu überzeugen, die gegen uns sind. Aber ich möchte die erreichen, die noch unentschlossen sind. Ich höre oft, dass für manche Deutsche aus historischen Gründen die Vorstellung schmerzhaft sei, dass deutsche Panzer gegen russische kämpfen.

Faber: Den Menschen schmerzt das Bild, während Menschen sterben.

Sovsun: Das ist für mich nur schwer nachvollziehbar. Aber ich versuche, darüber zu reden. Dann sage ich, dass mehr Ukrainer im Zweiten Weltkrieg durch Nazi-Deutschland getötet wurden als Russen. Dass der größte Teil der Kämpfe auf ukrainischem Gebiet stattfand. Wenn wir über historische Verantwortung sprechen, sollten wir also nicht über Moskau, sondern über Kyjiw sprechen. Nazi-Deutschland hatte die gesamte Ukraine besetzt. Im Bundestag steht ein Stück der Berliner Mauer, auf dem die Namen angeblich russischer Soldaten stehen, die Berlin befreit haben. Wenn ich mir diese Namen anschaue, sind reihenweise Ukrainer darunter.

Macht Sie das wütend?

Sovsun: Ich versuche, damit konstruktiv umzugehen und nicht hysterisch zu reagieren. Wenn das die Argumente sind, die vorgebracht werden, lassen Sie uns darüber reden. Man muss auch verstehen, dass die Russen über Jahrzehnte die Verbindungen auf wirtschaftlicher, politischer und kultureller Ebene nach Deutschland verstärkt haben. Das können Sie schon daran sehen, wie groß die russische Botschaft in Berlin ist. Die Ukraine hat nie so strategisch gedacht. Das sollten wir ändern. Es liegt noch viel Arbeit vor uns, das gegenseitige Verständnis zu verbessern.

Mit Inna Sovsun und Marcus Faber sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

ntv.de Dienste
Software
Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen