"Brexit-Mist" Bercow lässt Johnson auflaufen
21.10.2019, 20:33 Uhr
Parlamentspräsident Bercow ist inzwischen eine Reizfigur für die Regierung in London.
(Foto: imago images / Xinhua)
Seine Gegner nennen den britischen Parlamentspräsidenten einen Wichtigtuer. Unstrittig ist, dass der kleine Mann im Brexit-Drama eine Hauptrolle spielt. Wieder einmal macht er Johnson einen Strich durch die Rechnung. Mit seiner Blockade der heutigen Abstimmung setzt Bercow den Premier massiv unter Zeitdruck.
Seit drei Jahren steht John Bercow im Zentrum des Brexit-Dramas in Großbritannien - und hat sich seither zu einer Reizfigur für die konservativen Befürworter des EU-Austritts entwickelt. Nun machte der britische Parlamentspräsident den regierenden Tories erneut einen Strich durch die Rechnung, indem er eine Abstimmung über den neuen Brexit-Vertrag verhinderte. Eine solche Abstimmung wäre eine "Wiederholung und ordnungswidrig", erklärte Bercow, der wegen seiner durchdringenden "Order"-Rufe im Londoner Unterhaus weltweit zur Berühmtheit geworden ist.
Das Verhältnis zur konservativen Partei von Premier Boris Johnson ist unterdessen von zunehmender Feindseligkeit geprägt. Und mit seinem jüngsten Entscheid dürfte Bercow Johnson einmal mehr gegen sich aufgebracht haben. Die Chancen auf einen pünktlichen Brexit am 31. Oktober schwinden, nachdem Bercow die Abstimmung abgesetzt hat. Für den Regierungschef ist das eine weitere bittere Schlappe. Er muss nun das Gesetz zur Ratifizierung des Vertrags im Eiltempo durchs Parlament bringen. Erst danach will das Europaparlament seinerseits über das Vertragswerk abstimmen. Ob das alles binnen zehn Tagen klappt, ist äußerst unsicher.
Die britische Regierung wollte eine Grundsatzentscheidung, ein sogenanntes Meaningful Vote. Damit wäre zumindest klar gewesen, ob das Abkommen eine Mehrheit in dem total zerstrittenen Parlament findet. Doch Bercow ließ das mit der Begründung nicht zu, eine Vorlage gleichen Inhalts habe schon am Samstag zur Abstimmung gestanden. Auch die Umstände hätten sich nicht geändert. Am Samstag hatten die Abgeordneten ihr Votum vertagt, um die Regierung zu einem Antrag auf Fristverlängerung bei der EU zu zwingen. Den schickte Johnson am Wochenende auch zähneknirschend nach Brüssel, allerdings mit der Ansage, den Brexit doch am gültigen Termin 31. Oktober durchzuziehen. Entschieden werden dürfte über eine Verlängerung erst, wenn mehr Klarheit in London herrscht.
"Rechte der Parlaments verteidigen"
Bereits im September hatte Bercow den Zorn der Brexit-Befürworter auf sich gezogen, als er den Versuch Johnsons, das Unterhaus in eine Zwangspause zu schicken, als "Verfassungsfrevel" abtat. Das Oberste Gericht gab Bercow Recht und bezeichnete die Zwangspause als "illegal", "ungültig" und "unwirksam".
Zahlreiche Abgeordnete kämpfen im britischen Parlament gegen einen ungeregelten Brexit am 31. Oktober - und sehen in Bercow einen großen Unterstützer ihres Anliegens. Dabei war Bercow 1997 für die Tories ins Parlament eingezogen. Aber vor zehn Jahren übernahm er das Amt des Parlamentspräsidenten, das ihn zur politischen Neutralität verpflichtet. Parteifreunde aus den eigenen Reihen werfen Bercow vor, voreingenommen sowohl gegen die Regierung als auch gegen den Brexit zu sein - während die meisten Abgeordneten der oppositionellen Labour-Partei Bercows hartnäckigen Kurs begrüßen.
Bercow pocht derweil darauf, dass es seine Aufgabe sei, die Rechte des Parlaments auf Mitsprache beim Brexit zu verteidigen. Und in diesem Kampf hilft ihm seine prägnante Schlagfertigkeit. Geboren wurde Bercow am 19. Januar 1963, er wuchs im Norden Londons in bescheidenen Verhältnissen auf. Sein Vater war Taxifahrer. An der Universität begann Bercow sich politisch zu engagieren, nach einer Beratertätigkeit im Stadtrat wurde er 1997 Abgeordneter. Zwölf Jahre später wurde er mit 46 Jahren zum jüngsten Parlamentspräsidenten seit hundert Jahren.
Modernisierer des Unterhauses
Dass er den Handlungsspielraum der Regierung im Brexit-Ringen zum Vorteil des Parlaments einschränkt, bringt die Kritiker auf die Barrikaden. "Der Schiedsrichter in unseren Angelegenheiten ist nicht mehr neutral", sagte ein konservativer Parlamentarier. "Wenn wir uns immer nur von Dagewesenem leiten ließen, würde sich in unseren Abläufen niemals etwas ändern", gab Bercow zurück.
Ein anderer Abgeordneter kritisierte Bercow wegen eines in seinem Auto gesichteten Aufklebers mit der Aufschrift "Brexit-Mist". Der 1,68 Meter große Parlamentspräsident erwiderte knapp, das Auto gehöre seiner Frau, die "ein Recht auf eigene Ansichten" habe. Auch hatte Bercow etliche Konservative mit seiner Weigerung verärgert, US-Präsident Donald Trump vor dem Parlament sprechen zu lassen.
Einen "Wichtigtuer" nennen ihn seine Gegner, Unterstützer sehen in dem 56-Jährigen hingegen einen unkonventionellen Parlamentschef, der das Unterhaus modernisiert hat. Immer wieder warf er altehrwürdige Regeln über Bord. Das Tragen der traditionellen Perücken schaffte er ab - und im Juni 2017 erlaubte er den Abgeordneten gar, ohne Krawatten zu erscheinen.
Quelle: ntv.de, mau/AFP/dpa