Woher kommt Israels Impferfolg? Chef-Stratege: Wir haben jeden über 70 angerufen
19.03.2021, 14:05 Uhr
Der Erfolg in der Impfkampagne macht es möglich: Israel lockert Stück für Stück die Kontaktbeschränkungen.
(Foto: picture alliance/dpa/Xinhua)
Was ist nötig, um so schnell gegen Covid-19 zu impfen wie Israel? Pragmatismus, jede Menge Daten und ab und zu muss man sich grillen lassen, sagt Ran Balicer, Chef des israelischen Covid-19-Expertengremiums. Er plädiert für radikale Transparenz: "Wenn wir etwas wussten, haben wir gesagt: 'Das wissen wir.' Über das, was wir nicht wussten, haben wir gesagt: 'Das wissen wir nicht.'"
ntv.de: Sehr typisch für den Start der deutschen Impfkampagne war, dass man anrufen musste, um einen Termin zu machen, aber die Callcenter waren überlastet. Wie lief das in Israel?
Ran Balicer: In Israel haben die Callcenter angerufen. Wir haben jeden einzelnen Menschen über 70 angerufen, um ihn von einer Impfung zu überzeugen und einen Termin abzumachen. Die Callcenter waren eingerichtet für die Älteren mit weniger Digitalkompetenz. Die anderen konnten wir über unsere digitale Infrastruktur erreichen.
Sie meinen die digitale Krankenakte, die von jedem Israeli bei dessen Versicherung gespeichert ist? Das wäre in Deutschland datenschutzrechtlich kaum machbar.

Professor Ran Balicer leitet das Clalit Forschungsinstitut in Israel. Als Chef des nationalen Covid-19-Expertengremiums hat er die israelische Impfkampagne entworfen.
Im israelischen Gesundheitssystem sind alle Informationen digitalisiert und auf verschiedene Weise nutzbar. Wir haben diese Daten beispielsweise verwendet, um in der Frühphase der Pandemie ein Modell von schweren Krankheitsverläufen zu erstellen.
Wie haben Sie die Daten darüber hinaus genutzt?
Wir haben damit alle hochgradig gefährdeten Personen schon sehr früh identifiziert, haben uns mit ihnen in Verbindung gesetzt und klar gesagt: Bleiben Sie bitte zu Hause, vermeiden Sie jedes Risiko. Wir haben die Hochrisikogruppen über Hausbesuche oder mit Telemedizin versorgt. Dadurch konnten wir für die stark Gefährdeten das Ansteckungsrisiko deutlich reduzieren. Darum ist die Todesrate in Israel im Vergleich mit den meisten anderen Staaten deutlich niedriger.
Was brachte das für die Impfkampagne?
Wir kannten die Personen der Risikogruppen. Wir haben ihnen Erinnerungsbotschaften auf ihre Apps geschickt, sie konnten auch über ihre Apps einen Impftermin buchen. Wenn sie ins Impfzentrum kamen, war ihre Krankenakte schon da. Der zweite Impftermin wurde automatisch gebucht.
Wie haben die Impfstoffhersteller von Ihren Datensätzen profitiert?
Wir haben die klinischen Versuche, die Pfizer mit dem Impfstoff durchgeführt hat, mit unseren eigenen Daten nachgeahmt. Die Pfizer-Studie zeigte 95 Prozent Wirksamkeit. Diesen Effekt haben wir an 600.000 Geimpften nachgewiesen, die wir mit 600.000 Ungeimpften verglichen haben, und zwar perfekt zusammen passend. Wenn wir einen 54-jährigen, männlichen Ultraorthodoxen aus einem Stadtbezirk von Tel Aviv mit drei chronischen Krankheiten hatten, der geimpft war, haben wir für ihn einen 54-jährigen männlichen Ultraorthodoxen aus demselben Stadtteil mit derselben Anzahl von chronischen Krankheiten gesucht, der ungeimpft war.
Mit welchem Ergebnis?
Wir konnten für die Impfung eine Reduzierung von 92 Prozent der schweren Krankheitsverläufe nachweisen. Als Allererste konnten wir auch eine Reduzierung bei der Sterblichkeit nachweisen.
Sie haben nun mehr als ein Drittel Ihrer Bevölkerung vollständig immunisiert. In Deutschland liegt diese Quote bei 3,8 Prozent.
Für eine effiziente Impfkampagne hilft es natürlich, wenn ein Land - wie Israel - geografisch verdichtet ist, also auf kleiner Fläche, und nur mit etwas über neun Millionen Einwohnern. Wir haben über das ganze Land verteilt mehrere Hundert Impfstationen eröffnet, meist in kleinen Gemeindekliniken. Der tägliche Kontakt zwischen den Patienten und Ärzten hat ungemein dabei geholfen, diese Impfzentren schnell arbeitsfähig zu machen.
Sie haben ähnlich priorisiert wie Deutschland, aber manche Jüngere sind auch schon geimpft.
Ja, wir sind bei der Impfung vor Ort sehr beweglich. Wir haben die Haltung: Nichts wird weggeworfen. Wenn es auf den Abend zugeht und Präparate übrig sind, impfen wir jeden. Wir haben gesagt, die Leute sollen vorbeikommen oder vorbeibringen, wen sie wollen. First come, first serve, bis alle Dosen geleert sind.
Pizza gab es auch, wie man hörte, in manchen Impfzentren sogar Freibier.
Die Regierung hat eine breite Kampagne gefahren, die sehr geholfen hat. Premierminister Netanjahu hat sich live im Fernsehen impfen lassen, ebenso die wichtigsten Vertreter des Gesundheitssystems, ich zum Beispiel auch. Wir wollten zeigen, dass die Immunisierung sicher und wirksam ist. Schließlich ist es ungeheuer wichtig, Fake News zu bekämpfen und Impfverweigerung anzugehen.
Ist das in Israel ein großes Problem? Unter Ultraorthodoxen sind oft schon Masken verpönt.
Wir haben uns sehr um die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen bemüht - die arabischen Gruppen, die ultraorthodoxen Gruppen. Ich bin zum Beispiel selbst zu Rabbiner-Lesungen gegangen. Da waren Rabbiner und ultraorthodoxe Ärzte und haben mich zwei Stunden lang gegrillt.
Und am Ende?
Nach zweieinhalb Stunden stand der Ober-Rabbiner auf und sagte: "Okay, ich bin überzeugt. Die Impfung scheint sicher und wirksam zu sein." Er gab mir seine Zustimmung, um seiner Gemeinde zu sagen: "Auf geht's, lasst euch impfen."
Aber es stehen ja durchaus Fragen im Raum, die man heute noch gar nicht beantworten kann.
Absolut, und darum war für uns Transparenz entscheidend. Soll heißen: Wir haben alles beim Namen genannt. Wenn wir etwas wussten, haben wir gesagt: "Das wissen wir." Über das, was wir nicht wussten, haben wir gesagt: "Das wissen wir nicht." Als Beispiel: Viele Menschen haben gefragt: "Wie könnt ihr wissen, wie sicher die Impfstoffe noch in zwei, drei Jahren sind?" Das wissen wir zu diesem Zeitpunkt nicht. Wir können aber sagen: Das, was wir über Covid-19 wissen, beunruhigt uns wesentlich stärker als das, was wir über die potenziellen Risiken der Impfung noch nicht wissen. Das akzeptieren die Menschen.
Mit Ran Balicer sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de