
Ja, wo sind sie denn alle? Am Strand, im Wahlkreis - und im September wieder zurück in Berlin.
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Corona, Krieg und Inflation: Der im Herbst zusammengetretene Bundestag mit seinen vielen neuen Mitgliedern ist denkbar gestresst in die Legislaturperiode gestartet. Die ersehnte Sommerpause könnte zu einem jähen Ende kommen, falls in zwei Wochen das russische Gas wegbleibt.
Kurz vor dem Urlaub geht es den Menschen wie den Leuten: Die letzten Bürotage fallen immer besonders stressig aus, will man einen möglichst leeren Schreibtisch zurücklassen. In der letzten Sitzungswoche des Bundestags kam es deshalb in der Nacht zu Donnerstag zu einer bis zwei Uhr andauernden Rekordsitzung, damit noch möglichst viele Themen abgearbeitet werden konnten. Hätte die AfD-Fraktion nicht erzwungen, dass die Beschlussfähigkeit des Bundestags überprüft wird, die Abgeordneten hätten noch länger gemacht. Aber Freitag war ja schließlich auch noch ein Tag, und wie gesagt: Es sind ja bald Ferien. Nur wie lange die für die Abgeordneten ausfallen, ist mehr als ungewiss.
Am Montag geht die russische Gaspipeline Nord Stream 1 in die reguläre, zehntägige Wartungspause. Im politischen Berlin stellt man sich längst darauf ein, dass Präsident Wladimir Putin auch nach Ende der Wartungsarbeiten einen Lieferstopp verfügt. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck warnt seit zwei Wochen davor, dass in Russland ein technischer Grund gefunden werden könnte, der als Vorwand zum fortgesetzten Lieferausfall genutzt wird. Ob es wirklich so weit kommt, weiß niemand. Aber wenn ja, ist die Hoffnung auf etwas Erholung im Sommer dahin.
"Nicht zu weit rausschwimmen", riefen Fraktionsführungen schon in früheren Krisenzeiten ihren Abgeordneten zu, bevor die sich in den Urlaub verabschiedeten. So auch jetzt: "Es kann zu Situationen kommen, in der wir eine Sondersitzung brauchen", sagt Katja Mast, Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD. "Deshalb rate ich meinen Kollegen, dass sie gut erreichbar sind." Auch den Grünen-Abgeordneten wurde geraten, nicht auf Tauchstation zu gehen und den Kontakt nach Berlin aufrechtzuerhalten. Für die allermeisten Abgeordneten dürfte das kein Problem darstellen, ist doch die Abgeordnetentätigkeit ohnehin mit ständiger Erreichbarkeit verbunden. Zumal viele Parlamentarier als Nachrichten-Junkies ständig auf ihr Smartphone schauen, erst recht in Zeiten des Krieges.
Gas-Rationierung müsste im Bundestag besprochen werden
Zu besprechen gibt es im Ernstfall einiges: Sollte das Gas wegbleiben, würde wohl die letzte und höchste Notfallstufe drei ausgerufen. Dann wird Gas rationiert und nach Priorität zugeordnet. Wobei das Verfahren außerordentlich komplex würde: Die Zuteilung würde sich auch nach der Versorgungsinfrastruktur richten, also am Leitungsnetz orientieren. Verbraucher und Unternehmen hängen meist an denselben Rohren, einige Stadtwerke haben auf dem Papier auch ohne russisches Gas kein Bezugsproblem, weil sie sehr langfristige Lieferverträge haben. Die Zuteilung würde letztlich sehr ungleich ausfallen und sich nicht immer an der Frage orientieren, welche Menschen und Unternehmen höchste Priorität haben.
Selbst wenn der Bundestag da nicht mitzureden hat und die dem Bundeswirtschaftsministerium unterstellte Bundesnetzagentur dies regelt, könnte ein solcher Ernstfall kaum ohne Aussprache im Bundestag und ohne Erklärung durch die Regierung passieren. Hinzukommt, dass womöglich Gesetze im Schnellverfahren beschlossen werden müssten, die längst vorbereitet sind. Seit Dezember arbeitet das Haus von Wirtschaftsminister Habeck an der Vorbereitung für den Ernstfall. Doch um die deutschen Gasspeicher vollzukriegen, eine Mindestvoraussetzung, um Deutschland durch einen durchschnittlichen Winter zu bringen, hat es nicht gereicht. Am Montag, wenn die Wartung von Nord Stream 1 beginnt, werden die Speicher zusammengerechnet bei kaum 65 Prozent Füllstand sein.
Ach ja, Corona ...
Neben dem Russland-Krieg ist da ja noch etwas: "Meine eigenen Urlaubspläne sind in den letzten Wochen geschrumpft", sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am Freitag in Berlin. Er verwies auf Verordnungen, die auf den Weg zu bringen seien, auf die laufenden Beratungen über eine Neuregelung des Infektionsschutzgesetzes und Vorbereitungen für den Herbst, "weil wir davon ausgehen, dass wir eine erhebliche Herbstwelle zu bewältigen haben".
Das betrifft auch die Mitglieder des Gesundheitsausschusses. Am 23. September läuft das Infektionsschutzgesetz aus. Mindestens eine Rückkehr der Maskenpflicht in Innenräumen wird aus Sicht der meisten Regierungspolitiker wohl notwendig, wenn die bislang ungebremst wütende Sommerwelle sich mit abkühlenden Außentemperaturen kombiniert. Hinzu kommt die Möglichkeit weiterer Virus-Mutationen. Die Pandemie wird leider nicht in die Sommerpause gehen, sagte Lauterbach. Das gelte aber auch für die Pandemiebekämpfung. "Wir können es uns nicht leisten, ein drittes Mal unvorbereitet oder schlecht vorbereitet in den Herbst hineinzugehen."
Alle brauchen Pause
Dass einzelne Ausschüsse in den parlamentarischen Ferien arbeiten, ist keine Besonderheit. Allerdings ist der Gesundheitsausschuss durch die Pandemie seit Jahren besonders belastet. Vor allem Arbeit und Diskussionen rund um die letztlich gescheiterte Impfpflicht waren kraftraubend. Insgesamt beschloss das Parlament in den ersten neun Monaten der Legislaturperiode 54 Gesetze und Gesetzesnovellen. Das ist eine sehr hohe Schlagzahl, auch wenn seit der Wiedervereinigung jede Legislaturperiode zwischen 400 und 600 Gesetze und Gesetzesänderungen vorbrachte. Diese müssen trotzdem erst einmal erarbeitet werden, was nach einem Regierungswechsel mit lauter neuen Ministeriumsspitzen erst recht Zeit braucht. Doch zum Warmlaufen hatten weder Regierung noch Parlament die Möglichkeit, dies brachten die Krisen mit sich.
Der Druck auf die Ministerien lässt ebenfalls nicht nach, schon gar nicht in Habecks Wirtschafts- und Klimaschutzministerium, wo kurzfristige Alternativen zu russischen Rohstoffen, die beschleunigte Umstellung auf Erneuerbare Energien und der Kampf gegen eine drohende Rezession gleichzeitig bearbeitet werden müssen. Dass es zuletzt in der Koalition vermehrt zu Reibereien kam, schrieb ein Mitglied des Koalitionsausschusses auch den nach Monaten des Krisenmodus blank liegenden Nerven zu.
Das politische Berlin braucht - wie das ganze Land - dringend etwas Pause, doch niemand darf lange und allzu weit weg sein. Aber die Abgeordneten legen ihre Hände ohnehin nicht bis zum 5. September, dem Beginn der nächsten Parlamentarischen Sitzungswoche, in den Schoß. Einen Großteil der kommenden zwei Monate verbringen die Mandatsträger in ihren Wahlkreisen. Dorthin werden sie die Themen Krieg, Energiesicherheit, Pandemie und Preisdruck ganz sicher verfolgen.
(Dieser Artikel wurde am Freitag, 08. Juli 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de