Ein Sommer auf Pump Das Land liegt am Boden, die Libanesen feiern trotzdem
03.10.2023, 16:54 Uhr Artikel anhören
Die Schönheit Beiruts und des Libanons lockt wieder viele Touristen an - doch die Probleme im Land bleiben.
(Foto: imago images/VWPics)
Der Libanon erlebt einen Tourismusboom. Die Gäste spülen Milliarden Dollar in das kleine Land am Mittelmeer. Doch die überfüllten Bars, Restaurants und Clubs stehen im krassen Gegensatz zur schweren Wirtschaftskrise und der politischen Lähmung des Landes. Wie passt das zusammen?
Exotische Kakteen, weiße Sonnensegel, am Horizont das azurblaue Mittelmeer: Diesen traumhaften Blick hat Simon Obegi täglich. Er ist Barchef im Butlers Beach Club in Batroun - einer kleinen, charmanten Küstenstadt nördlich von Beirut. Obegi ist spürbar stolz, in einem der aktuellen Sommer-Hotspots im Libanon arbeiten zu können. Dabei hätten viele Gäste gar nicht das Gefühl, im Libanon zu sein, betont Obegi, und streicht sich durch den dichten, dunklen Bart. Denn Architektur und Aufmachung erinnerten eher ans tausende Kilometer entfernte mexikanische Tulum, sagt er. Und auch die schwere Wirtschaftskrise des Landes scheint hier weit weg zu sein.
Die Gäste werden bei Temperaturen von mehr als 30 Grad mit Golf Carts die etwa 100 Meter zum Poolbereich chauffiert. Vor der weitläufigen Anlage stehen teure Autos, drinnen sonnen sich schöne Frauen und durchtrainierte Männer. "Die Libanesen lieben es einfach zu leben, ihr Leben zu genießen. Sie lieben es, an den Strand zu gehen, zu trinken", sagt Obegi über seine Landsleute. Natürlich gebe es eine Menge Menschen, die wegen der Krise weder Geld noch Arbeit hätten. Aber viele derjenigen, die ausgehen, sagt Obegi, hätten einen gut bezahlten Nebenjob in einem anderen Land, zum Beispiel in den USA, und würden vom Libanon aus online arbeiten.
"Wir sind ständig ausgebucht"
Butlers Beach Club hat erst vor einem Jahr eröffnet. Seitdem boomt das Geschäft. "Wir sind ständig ausgebucht", sagt Obegi, während er an den acht Luxus-Bungalows vorbeischlendert. Zwischen 500 und 700 Dollar kostet eine Übernachtung in der Hauptsaison, Privat-Pool inklusive. Wer es nicht ganz so exklusiv will und nur mal relaxen möchte, kauft ein Tagesticket für 30 Dollar. Auch jetzt, Ende September, ist jede der stylischen, beigefarbenen Polsterliegen belegt. Kellner in weißen Shirts wuseln zwischen Bar und Pool hin und her. Unter einem Sonnenschirm sitzt Eleonore. Die Belgierin ist zum ersten Mal im Libanon und sie ist überrascht. Nein, 30 Dollar Eintritt hätte sie nicht erwartet. Und ein bisschen sorge sie sich auch um die Rechnung angesichts der ganzen Weinflaschen, die ihre Freunde bestellen würden, sagt die junge Frau und lacht.
Auch wenn er in diesem Jahr viel mehr Touristen sehe, als noch 2022, das Gros, so um die 80 Prozent, seien Libanesen, sagt Bar-Chef Obegi. Und die seien bereit, "von 1000 Dollar Monatsgehalt 300 bis 400 Dollar auszugeben, um Spaß zu haben".
Für viele geht es auch ein wenig ums Verdrängen. Schließlich wurde der Libanon zuletzt hart getroffen: Erst gab es die verheerende Explosion im Hafen von Beirut mit mehr als 220 Toten, dann kam das Coronavirus. Seit 2019 befindet sich das Land zudem in einer schweren Wirtschaftskrise - als Resultat jahrzehntelanger Korruption und Misswirtschaft. Die Landeswährung, das Libanesische Pfund, hat seitdem mehr als 98 Prozent ihres Wertes verloren.
Mit Corona fing der Boom an
Preise für Lebensmittel sind teilweise um 600 Prozent gestiegen. Ein Einkauf kostet Millionen, die Geldbündel passen kaum ins Portemonnaie. Mittlerweile dominiert der Dollar den Markt, weil sein Wert stabiler ist - auch wenn nur wenigen Beschäftigten ihre Löhne in der US-Währung ausgezahlt werden. Hinzu kommt: Die Regierung hat die Konten der Bürger eingefroren. Drei Viertel der Libanesen leben laut den Vereinten Nationen inzwischen in Armut.
Batroun ist eine Art Parallel-Universum. Es herrscht Goldgräber-Stimmung. Das beobachtet auch Jamil Haddad, der hier den Beach Club "Colonel Reef" und eine Mikrobrauerei betreibt. Seine langen, gräulichen Haare hat er zu einem Zopf zusammengebunden. Anders als im ein Kilometer entfernten Edel-Club zahlt man bei ihm keinen Eintritt.
Die Einrichtung ist einfach, aber hip. Früher sei Batroun vor allem ein Ort für Künstler und Intellektuelle gewesen. Doch das habe sich durch Corona komplett geändert, sagt Haddad, der in Batroun geboren und aufgewachsen ist. Denn plötzlich waren beliebte Ziele wie Ibiza oder Mykonos unerreichbar. Und so entdeckten die reichen Leute die kleine Küstenstadt für sich - und setzten so eine Lawine in Bewegung. Der Immobilienmarkt begann zu boomen. Leute kauften Häuser oder mieteten sie zu höheren Preisen. Zugleich eröffneten viele Restaurants. Durch Corona, sagt Haddad, sei es "verrückt geworden".
Mit jedem Flugzeug kommt frisches Geld
Einige wähnten den 15.000-Einwohner-Ort schon als nächstes Ibiza. Aus einer Handvoll Airbnbs wurden mittlerweile mehr als sechs- bis siebenhundert. Haddad sieht den Luxus-Trend dennoch gelassen. Es müsse schließlich für jeden Geschmack etwas geben. Auch wenn er überzeugt ist, dass einige nur hier seien, um schnelles Geld zu machen.
Das Verrückte an der ganzen Sache sei, sagt er, "dass wir über einen Boom in Batroun, in Beirut und überall im Libanon sprechen, während wir eine schwere Krise haben". Statt ihr Geld auf der Bank zu sparen oder zu Hause zu horten, gäben die Libanesinnen und Libanesen es eben lieber aus. Überall öffnen neue Bars und Restaurants. Nicht nur in Batroun, auch in Beirut. Andrang und Nachfrage sind groß. Wer einen Platz haben will, muss reservieren. In Beirut tanzen tausende junge Leute in den Clubs, bis die Sonne über der Hauptstadt aufgeht. Schon im Mai prognostizierte der geschäftsführende Tourismusminister mehr als zwei Millionen Gäste für diesen Sommer - und somit die höchste Zahl seit Jahren für das kleine Land am östlichen Mittelmeer.
Die Besucherinnen und Besucher würden etwa "neun Milliarden Dollar Umsatz machen", hieß es weiter. Es sind vor allem im Ausland lebende Libanesinnen und Libanesen, die im Sommer Familie und Freunde in der Heimat besuchen. Mit jedem Flugzeug, das in Beirut landet, kommt frisches Geld in den Libanon - und zwar Cash. Denn aufgrund der schweren Wirtschaftskrise gibt es so gut wie keine Kartenzahlung mehr. Selbst Wohnungen oder Häuser werden seit der Krise in bar bezahlt. Das macht den Libanon allerdings zu einem Geldwäsche-Paradies.
Prinzip Hoffnung
Geht es für das gebeutelte Land also endlich voran? Anna Fleischer ist skeptisch. Die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut spricht von einer Sommerblase. Auch wenn eine Prognose schwierig sei, glaubt sie eher an eine Stagnation. Schließlich gebe es keine funktionierende Regierung. "Es scheint mir, als ob das weiterhin der Modus sein wird: jeden Sommer zu versuchen, so viel Geld wie möglich einzunehmen, um sich dann mit diesem Geld über den Rest des Jahres zu retten." Und dies bezeichne auf viele Arten und Weisen eben den Libanon, so Fleischer. Zudem hätten viele Menschen schon vor der Krise auf Pump gelebt. Kredite für Schönheitsoperationen oder Restaurantbesuche klingen zwar absurd - waren hier aber an der Tagesordnung. Auch jetzt, befürchtet Fleischer, hätten sich viele finanziell übernommen, nur um ihren Verwandten zu zeigen, wie toll das Land doch noch sei.
Der Staat funktioniere de facto nicht mehr, betont Fleischer und nennt ein einfaches Beispiel: Das Finanzministerium habe kein Durchschlagpapier mehr, um Erklärungen für eine Steuererhebung zu machen. Es werde "an jetzt gedacht, an heute und höchstens vielleicht noch an morgen früh, aber schon nicht mehr an morgen Nachmittag", sagt sie. Für Libanesinnen und Libanesen gehe es vor allem ums Überleben. Vom Staat, das haben die Menschen hier gelernt, ist keine Hilfe zu erwarten. "Wir haben eine Bevölkerung, die im Gegensatz zu vielen Bevölkerungen in Europa absolut daran gewöhnt ist, eigene Lösungen zu finden", sagt Fleischer. Und eine dieser Überlebensstrategien sei das Prinzip Hoffnung.
Zurück im Butlers Beach Club. Während die Sonne langsam untergeht, füllt sich die Bar. Simon Obegi schaut zufrieden. Es fühle sich an wie früher, sagt er, korrigiert sich dann aber umgehend. Nein, es fühle sich sogar besser an. "2019, vor der Krise und vor Corona, hast du nicht jeden Monat einen neuen Laden entdeckt. Jetzt, im Jahr 2023, sieht man jede Woche viele neue Lokale". Laut Obegi gibt es gerade sogar einen Mangel an Mitarbeitenden im Gastgewerbe. Er nährt aus dem aktuellen Boom die Hoffnung, im Libanon bleiben zu können. Er glaubt an sein Land - im Gegensatz zu fast allen seiner Freunde. Die, sagt er, hätten den Libanon längst verlassen.
Quelle: ntv.de