Interview mit Dmitry Glukhovsky "In Russland herrscht Angst und die Menschen sind sehr passiv"
23.09.2022, 11:58 Uhr
Eine Festnahme bei Antikriegs-Protesten in Moskau, von der russischen Staatsagentur Tass veröffentlicht.
(Foto: picture alliance/dpa/TASS)
Die Moskauer leben, als gäbe es diesen Krieg nicht, so beschreibt Dmitry Glukhovsky das letzte halbe Jahr. Das ist vorbei. Die Mobilmachung ist ein Schock für die Russen, denn jeder kennt jemanden, der nun an die Front muss. Was fehlt, damit die Proteste dagegen wachsen: Wut und Mut, sagt der Autor, der in seinen Büchern seit Jahren vor dem Weg in den Totalitarismus warnt. Seit Juni ist er zur Fahndung ausgeschrieben.
ntv.de: Hat Sie die Mobilmachung überrascht?

Der gebürtige Moskauer Autor Dmitry Glukhovsky ist einer der prominentesten Putin-Gegner aus der russischen Kulturszene. Seit Jahren warnt er vor dem Weg seines Landes in den Totalitarismus. Im Juni wurde er vom russischen Staat zur Fahndung ausgeschrieben.
(Foto: picture alliance / TT NYHETSBYRÅN)
Dmitry Glukhovsky: Ich war nicht überrascht, aber erschreckt. Als Putin den Krieg, in Russland heißt es ja Spezialoperation, verkündet hat, hatten viele Russen Angst vor einer Generalmobilmachung. Die erste Ausreisewelle kam durch diese Angst zustande, da waren auch viele meiner Freunde aus Moskau dabei. Dann wurde aber nicht mobilgemacht.
Was passierte stattdessen?
In den ersten sechs Monaten hatten viele Russen dieses leicht schizophrene Gefühl, dass weit weg dieser Krieg stattfand, aber sich in ihrem Leben überhaupt nichts änderte. Die Cafés in Moskau waren voll. Ja, man sah in den Straßen etwas mehr Polizei, man sah Werbung für den Ukraine-Einsatz in der Straßenbahn, aber ansonsten hielten alle Moskau immer noch für die beste Stadt der Welt.
Bis Mittwoch?
Am Mittwoch ist die Realität endgültig in dieses Leben eingedrungen, seither betrifft dieser Krieg jeden Menschen in Russland. Selbst für die Menschen in Moskau findet er jetzt nicht mehr nur im Fernsehen statt, sondern sie spüren ihn im eigenen Leben. Ich habe Freunde und Bekannte, die ihren Einberufungsbescheid schon bekommen haben. Sie wurden bereits angerufen, vor Wochen schon.
Dann war die Entscheidung zur Teilmobilmachung gar nicht so kurzfristig?
Die Einberufungen laufen schon länger, aber die Verabschiedung des Gesetzes ging ganz schnell. Es sieht bis zu 15 Jahre Haft vor, wenn du die Einberufung verweigerst, auch wird schwer bestraft, wer sich als Gefangener der Ukraine ergibt - wie zu Stalins Zeiten. In der Duma, dem russischen Parlament, wurde das Gesetz am Dienstag im Eilverfahren beschlossen, einstimmig. Tags darauf verkündete Putin die Generalmobilmachung. Innerhalb eines Tages und einer Nacht hat sich Russland in eine Militärdiktatur verwandelt.
Was tun die jungen Männer mit ihren Einberufungsbescheiden?
Es gibt nun Warteschlangen an den Grenzen. Flugtickets nach Kasachstan oder Belarus sind für Wochen ausverkauft, egal, zu welchem Preis. An der Grenze zur Mongolei leben die Burjaten, sie gelten als angstlose Kämpfer und ihre Heimat ist sehr arm. Für die jungen Leute in der Region war darum das Militär immer eine gute Option, um Geld zu verdienen, und für diesen Einsatz waren bis zu 3000 Euro monatlich im Angebot. Doch dann sind Leichname zurückgekehrt, es hat viele geheime Bestattungen gegeben, die Leute haben angefangen zu reden und zu verstehen. Selbst unter den Burjaten hat man nicht genug Freiwillige gefunden, als man sie noch gesucht hat.
Und jetzt?
… versuchen die Burjaten, über die Grenze in die Mongolei zu fliehen. Auch das zeigt, dass der Krieg in der Bevölkerung kaum Unterstützung hat.
Widerstand hat es aber auch kaum gegeben.
In Russland herrscht Angst und die Menschen sind sehr passiv. Es ist gelernte Hilflosigkeit, wenn du nicht glaubst, dass du selbst in deinem Land etwas ändern kannst. In den Familien gibt es noch Erinnerungen an Oma oder Opa, die zu Stalins Zeiten festgenommen worden sind. Die Mutter warnt ihre Kinder davor, sich zu wehren. "Du kannst nichts verändern", sagt sie, "aber eine Strafe wirst du kriegen". Am Mittwoch allein sind 1500 Menschen verhaftet worden. Auch diese Menschen sind überzeugt, dass sie nichts ändern werden. Sie gehen das Risiko nur aus Gewissensbissen ein.
Das klingt sehr deprimierend.
Die Ukrainer werfen den Russen vor, dass sie zu feige sind, sich zur Wehr zu setzen, während die Ukrainer für ihre Freiheit kämpfen. Aber Sie müssen auch sehen: Die Ukrainer haben zwei erfolgreiche Revolutionen erlebt. Sie haben ein ganz anderes Selbstvertrauen, ein ganz anderes Gefühl davon, was möglich ist. Wladimir Putin hat nicht ein einziges Mal einen Plan verändert, auf etwas verzichtet. Für Putin ist es unakzeptabel, einen Krieg, den er persönlich begonnen hat, zu verlieren. Darum muss er nun den Einsatz noch einmal erhöhen. Um seine Schwäche nicht zu zeigen.
Aber genau damit zeigt er doch enorm viel Schwäche.
In den Augen des Westens ja, aber nicht in Russland. Putins Magie basiert nicht auf Wahrheit. Sie ist auf Lügen gebaut, ihm mit Wahrheit zu begegnen, ist völlig unmöglich. Er strahlt Macht aus, und das zieht die Schwachen an. Wenn du lügst, aber immer noch stark und mächtig erscheinst, ist es den Leuten egal, ob stimmt, was du sagst. Sie suchen nicht nach Wahrheit, sie wollen der Machtquelle nah sein und diese Magie fühlen. Sobald aber Putins Armee in der Ukraine Schwäche gezeigt hat, hat diese Magie begonnen zu verschwinden. Das kann er nicht riskieren.
Aber nochmal: Das muss doch auch in Russland offenbar werden, dass man nur dann mobilmacht, wenn es nötig wird - weil es gerade nicht rund läuft.
Es gibt im Kreml keine Strategie, es gibt nur Taktik. Wir kümmern uns um das Problem, das wir jetzt haben. Was daraus in den nächsten Monaten folgen wird, kümmert uns in den nächsten Monaten.
Glauben Sie, dass die Proteste sich ausweiten?
Dazu müssen Sie folgendes sehen: Es gibt überhaupt keinen organisierten Widerstand in Russland. Die Oppositionsführer sind entweder im Gefängnis oder im Ausland. Ich selbst zum Beispiel werde schon allein wegen meiner kritischen Posts auf Instagram bereits gesucht und bin zur Fahndung ausgeschrieben.
Darum hat mir der Verlag den Ort unseres Treffens nicht per Mail geschickt, sondern über einen sicheren Messenger?
Wir halten uns an gewisse Vorsichtsmaßnahmen. Vielleicht sind sie unnötig, aber man muss es ja nicht drauf ankommen lassen. In Russland kann ich nicht mehr leben. Der Staat hat erst diese Woche wieder gezeigt, wie repressiv er ist. Schon für die Teilnahme an Straßenprotesten können bis zu 15 Jahre Straflager verhängt werden. Für breite Proteste fehlen die Wut und der Mut.
Wie verbreiten sich kritische Stimmen und Berichte?
Auf Youtube und über Telegram. Der Kreml traut sich nicht, Youtube zu verbieten, und dort berichten Oppositionelle und Journalisten aus dem Ausland. Regimekritische Telegramkanäle haben teils 1,5 Millionen Abonnenten und mehr. Wer will, kommt an Informationen. Aber Widerstand ist gefährlich.
Wie groß ist das Risiko, dass man bei einem Protestzug von der Polizei rausgezogen wird?
Du musst gar nicht rausgezogen werden. Die großen Städte, Moskau und Sankt Petersburg, überwachen den öffentlichen Raum mit Kameras. Mindestens 160.000 sind im Einsatz, verbunden mit einer Gesichtserkennungssoftware - wie in China, nur strenger. Die Moskauer Metro kann man bargeldlos nutzen. Jeder wird erkannt, der Fahrpreis wird vom Konto automatisch abgebucht. Wenn dich das System irgendwann unter den Demonstranten erkennt, kriegst du später einen Anruf. Und jetzt, das ist das Neueste, bekommen Protestierende hinterher einen Rekrutierungsbescheid.
Aus militärischer Sicht ist eine Brigade, die mehrheitlich aus Anti-Kriegs-Demonstranten besteht, allerdings auch kein wirklicher Gewinn.
An der Frontlinie hast du kaum Möglichkeiten, Widerstand zu leisten. Und als Kanonenfutter taugt man immer. Ich kann das alles in meinen Büchern beschreiben, darüber sprechen, aber es ändert nichts. Sogar mit Millionen verkaufter Exemplare meiner "Geschichten aus der Heimat", die sich auf ironische, metaphorische Weise mit der heutigen Lage in Russland beschäftigen - mit Zensur, Unterdrückung, Korruption - ist das gar nichts, wenn man es mit dem Publikum einer Talkshow vergleicht. Offenbar muss jede Generation ihre Fehler selbst machen. Sie lernt den Wert von Freiheit erst dann, wenn sie diesen Verlust selbst durchlebt hat.
Mit Dmitry Glukhovsky sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de