Tiananmen-Massaker, 4. Juni 1989 Der "Tank Man" hat die Welt verändert
04.06.2022, 13:16 Uhr
Das Foto wurde am 5. Juni 1989 aufgenommen, einen Tag nach der Niederschlagung des chinesischen Freiheitskampfes in Peking.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Am Morgen nach dem Massaker in Peking wird ein chinesischer Mann zum Helden und zur Ikone des Freiheitskampfes gegen die Unterdrückung der Massen. Weil er sich vor eine rollende Panzerkolonne stellt, tauft ihn die internationale Gemeinschaft "Tank Man", Panzer-Mann. Das "Time"-Magazin erhebt den Unbekannten in den erlauchten Kreis der 100 einflussreichsten Menschen des 20. Jahrhunderts. Auch seinetwegen finden Gesellschaften in anderen Teilen der Welt den Mut, gegen diktatorische Herrscher aufzubegehren.
Es sind nur rund drei Minuten, die am Vormittag des 5. Juni 1989 aus einem Mann einen Helden machen. Ein Unbekannter stellt sich auf der Chang'an Jie im Herzen Pekings, in unmittelbarer Nähe zum Platz des Himmlischen Friedens, einer Panzerkolonne der chinesischen Armee in den Weg. Ob der Mann ein aktives Mitglied der Demokratiebewegung ist, die in der Nacht zuvor mit vielen Leben für ihre Forderung nach politischer Teilhabe bezahlen musste, bleibt unklar. Dennoch geht sein Mut als letzter Akt des offenen Widerstandes dieser Tage und Wochen im Frühling vor 33 Jahren in die Geschichte ein.
Diese wenigen Augenblicke auf der Chang'an Jie haben sich förmlich in das Gedächtnis der Weltöffentlichkeit eingebrannt. Keine Gewalt, kein Blut, und dennoch rufen die Bilder dieses Mannes, wie er einer an die Zähne bewaffneten Staatsmacht mit zwei Einkaufstüten in den Händen gegenübertritt, auf ewig die vielen Toten vom Tiananmen ins Gedächtnis. Sie strahlen bis heute eine Faszination aus, die eine globale Erinnerungskultur geschaffen hat, die es der Kommunistischen Partei Chinas unmöglich macht, das Massaker an der eigenen Bevölkerung zu einer Randnotiz der Historie zu degradieren.
Wer der Mann war, ist ebenso unklar, wie die Frage, ob er bestraft wurde, nachdem ihn mehrere Männer von der Straße geschoben hatten. Doch seine Bedeutung geht weit über die Erinnerung an die Verbrechen der KP des Jahres 1989 hinaus. "Dieser junge Mann hat die Welt verändert", sagt Professor Bruce Herschensohn im Dokumentarfilm "Tank Man" aus dem Jahr 2006. Herschensohn war einst Berater der US-Regierung um Richard Nixon und befasste sich intensiv mit kommunistischen Regimen. "Tank Mans Handeln hat den Wandel der Sowjetunion unterstützt", glaubte der inzwischen verstorbene Herschensohn, der kurz nach den Ereignissen in Peking diverse osteuropäische Länder bereiste.
Fünf Monate später fiel die Berliner Mauer
Vielerorts gingen die Menschen damals auf die Straße, um gegen prosowjetische Regime zu protestieren. Etliche Male und in vielen verschiedenen Ländern, so Herschensohn, hätten die Leute ihm sinngemäß gesagt: "Wenn dieser chinesische Junge vor den Panzern stehen kann, dann können wir das auch."
Fünf Monate nach Tank Man fiel die Berliner Mauer. Es folgten der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks. Viele Gesellschaften entledigten sich ihrer Despoten und diktatorischen Statthalter unter Moskaus Führung und entwickelten demokratische Strukturen. Doch kein Moment all dieser Umwälzungen und revolutionären Tage blieb der Welt so in Erinnerung wie die Entschlossenheit von Tank Man.
Das US-Nachrichtenmagazin "Time" verlieh seiner Bedeutung für den Kampf gegen Unterdrückung der Massen durch korrupte Regime Ausdruck, indem es Tank Man zu einer der 100 einflussreichsten Menschen des 20. Jahrhunderts. erkor "Der Mann mit den Panzern steht für die Macht der Namenlosen", schrieb das Magazin 1998.
"Ein Code für westliche Werte und Wünsche"
Bis heute werden die Aufnahmen regelmäßig aus den Archiven gekramt. Lehrpersonal demokratischer Staaten nutzt es als Anschauungsmaterial im Geschichtsunterricht. Tank Man wurde zur Popkultur. Das ungleiche Duell Mensch gegen Panzer schmückt heute T-Shirts und Poster und wurde sogar von einer weltberühmten Comicserie aufgegriffen. "Es ist das Mysterium, das seine dauerhafte Präsenz ermöglicht - das es ihm ermöglicht, ein Code für so viele westliche Werte und Wünsche zu sein", sagte Jennifer Hubbert, vom Lewis & Clark College in Portland vor einigen Jahren der New York Times.
Hubbert beschreibt in ihrem Beitrag Appropriating Iconicity: Why Tank Man Still Matters im "Journal of the Society for Visual Anthropology", was passiert, wenn das ikonische "Tank Man"-Bild modifiziert und für neue politische Zwecke umfunktioniert wird. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Verwendung des Bildes in neuen Kontexten in den USA dafür sorgt, dass es weniger über fehlenden politischen Liberalismus in China aufklärt, sondern demokratische Defizite in den Vereinigten Staaten aufzeigt.
Im heutigen China haben vor allem junge Menschen nur wenig detaillierte Kenntnisse über Tank Man. Seine Bilder und seine Geschichte schaffen es meist nur kurzfristig durch die Zensur der Partei, wenn überhaupt. Chinesische Schulbücher handeln den sogenannten "Zwischenfall" des 4. Juni als Heldentaten des chinesischen Militärs ab. Offizielle chinesische Angaben sprechen von einigen Hundert toten Demonstranten. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es in Wahrheit wohl Tausende waren. Aufklärung über die genaue Opferzahl und eine öffentliche Aufarbeitung des Blutvergießens wird es unter KP-Führung jedoch niemals geben.
Identität des Tank Man ist ungeklärt
Hochgradig sensibel geht sie gegen alles vor, das an die Nacht erinnert. Zuletzt wurden im Jahr 2016 vier Männer zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie Etikette auf Schnapsflaschen geklebt hatten, die Referenzen zu den tödlichen Ereignissen zogen. Als Comiczeichnung hatten sie Tank Man und eine Reihe von Panzern darauf abgebildet. Darunter stand: "Niemals vergessen, niemals aufgeben".
Auch 33 Jahre nach dem Massaker ist nicht endgültig geklärt, wer der Mann überhaupt war. Schon 1990 hatten ausländische Medien ihn als Wang Weilin identifiziert. Unter anderem behauptete auch Herschensohn, er habe durch Quellen in Peking diesen Namen erfahren. Doch bestätigt wurde diese Vermutung nie. Auch über den Menschen hinter dem Namen Wang Weilin ist nichts bekannt. Zu Tank Mans Schicksal gibt es verschiedene Versionen. Eine lautet, er sei Ende Juni 1989 hingerichtet worden, eine andere besagt, seine Hinrichtung sei erst Monate später vollstreckt worden. Und später gab es sogar Gerüche, Tank Man lebe anonym in Taiwan.
Die Theorie derjenigen, die an sein Untertauchen und damit an sein Überleben glauben, stützt sich vornehmlich auf die Tatsache, dass Tank Man nicht öffentlich hingerichtet worden ist. Etliche Protestler waren im Anschluss an die Ereignisse als Warnung an den Rest der Bevölkerung namentlich im Fernsehen vorgeführt und anschließend getötet worden. Ihre Vergehen waren deutlich weniger provokant als die Blockade der Panzer. Dennoch wurde Tank Man nicht wie viele andere im staatlichen TV hingerichtet.
Es bleibt bis heute die Frage, wer die Männer waren, die ihn von der Straße drängten. Staatssicherheit oder einfache Bürger? Ein Jahr nach dem Massaker konfrontierte die US-Journalistin Barbara Walters in einem Interview für den Sender ABC den späteren Staatschef Jiang Zemin mit einem Foto des Tank Man. Jiang sagte, er glaube nicht, dass der Mann getötet worden sei. Aber er könne auch keine konkreten Angaben machen. All die unbeantworteten Fragen trugen in den Folgejahren noch zum Mythos bei.
Quelle: ntv.de